Richard Traunmüller und Oliver Spalt von der Universität Mannheim haben erhoben, wie groß bei Menschen in Deutschland der Unterschied zwischen erwarteter und wahrgenommener Würde ist. Diese sogenannte Würdelücke ist im Bereich Politik besonders groß – mehr als die Hälfte der Menschen fühlt sich demnach von der Politik nicht respektiert. Im Gespräch erklären die Wissenschaftler, was Politiker daraus lernen können.
Herr Traunmüller, Herr Spalt, viele Menschen haben das Gefühl, keine Würde durch die Politik zu erfahren. Aber ist es nicht ein hoher Anspruch, dass jede und jeder Einzelne wahrgenommen wird?
Richard Traunmüller: Natürlich sind das sehr hohe Erwartungen. Aber im Artikel 1 unseres Grundgesetzes steht: Die Würde des Menschen ist unantastbar, alles staatliche Handeln hat sich danach auszurichten. Ausnahmslos jede Person hat Anspruch darauf, mit Würde behandelt zu werden. Das heißt: Erkenne meinen Wert an. Behandle mich mit Respekt und als gleichwertiges, autonomes Individuum, das in der Lage ist, seine eigenen Entscheidungen zu treffen. Das ist der Kernwert unserer Demokratie.
Funktioniert das heute tatsächlich schlechter als früher?
Traunmüller: Wir haben diese Daten zur wahrgenommenen Würde erstmalig überhaupt in Deutschland erfasst, deswegen haben wir keine Zahlen zur Entwicklung. Aber wir können die AfD als Indikator nehmen. Die gibt es seit etwas mehr als zehn Jahren und seither wächst ihr Zuspruch. Deswegen kann man wahrscheinlich sagen: In dieser Zeit ist etwas ins Rutschen gekommen.
Forscher der Uni Mannheim
- Richard Traunmüller ist Professor für Empirische Demokratieforschung an der Uni Mannheim. Der 43-Jährige ist unter anderem in Österreich aufgewachsen.
- Oliver Spalt ist Inhaber des Lehrstuhls für Allgemeine BWL, Finanzwirtschaft und Finanzmarktinstitutionen an der Uni Mannheim. Spalt, 45, kommt aus Stuttgart.
- Die Studie: Traunmüller und Spalt haben mit Daten des „German Internet Panel“ gearbeitet. Daraus entstehen regelmäßig Reports für die Reihe „Wie tickt Deutschland“.
Wer sind die Menschen, die sich nicht gewürdigt fühlen – und dann AfD wählen?
Oliver Spalt: Der wichtigste Treiber für die Würdelücke ist der Bildungsabschluss, mit einem Hochschulabschluss ist sie in der Regel geringer. Das Einkommen spielt dagegen eine untergeordnete Rolle. Es gibt keinen wirklichen Anhaltspunkt, dass das etwas zu tun hat damit, dass man die AfD wählt. Das lässt sich ja auch anekdotisch beobachten: Die 30 Prozent, die in Thüringen und Sachsen AfD gewählt haben, das sind nicht alles abgehängte Leute. Das sind sehr häufig Leute aus der Mitte der Gesellschaft mit gutem Einkommen – aber eher Arbeiter als Akademiker. Insgesamt ist dies ein wirklich beunruhigender Befund aus unseren Daten: Menschen ohne Hochschulabschluss fühlen sich selbst bei gleichem Einkommen von der Politik weniger respektiert und als autonomes und gleichberechtigtes Individuum wahrgenommen – und je stärker dieses Gefühl ist, desto größer ist die Neigung AfD zu wählen.
Warum schaffen es die anderen Parteien nicht, ein hinreichend großes Würdegefühl zu vermitteln?
Traunmüller: Man kann sich fragen, welche Versuche es bisher gab, mit der hohen Zustimmung für die AfD umzugehen und sie wieder kleinzukriegen. Die Erklärungen waren im wesentlichen drei Dinge. Das eine war eine Abstiegsangst von den vermeintlich Abgehängten, die nicht mehr mitkommen in der globalen Ökonomie. Das andere ist die Angst vor dem Fremden, diejenigen, die mit der Vielfalt nicht klarkommen. Und eine dritte Erklärung ist, dass sie fehlgeleitet sind von Verschwörungstheorien und Falschinformationen. Sinngemäß sagt man mit diesen Narrativen den Unterstützern und Wählern der AfD also: „Du bist ein Verlierer, du bist dumm und ein Rassist bist du auch.“ Und dann kann man sich fragen: Ist das, wie man respektvoll mit Leuten umgeht?
Da stellt sich natürlich die Frage: Wie können es Politikerinnen und Politiker besser machen?
Spalt: Ich will mal eine Analogie herstellen: Wenn Sie fünf Kinder hätten und eines davon hat das Gefühl, nicht anerkannt, respektiert und wahrgenommen zu werden, wie bekommt man dieses Vertrauen wieder zurück? Wenn man Geldgeschenke macht – etwa sagt: „Du kriegst jetzt eine Playstation, fühlst du dich jetzt respektiert?“ Ich bin für gute Sozialpolitik, aber Geldgeschenke bringen hier nicht wirklich etwas. Das geht nicht an den Kern, es vermittelt nicht das Gefühl, dass wir alle Teil einer Gesellschaft sind und jeder gehört wird. Man muss über die Zeit daran arbeiten, Vertrauen zurückzugewinnen.
Traunmüller: Man kann sich auch fragen, wie es mit der Autonomie der Bürger aussieht. In den letzten Jahren hatten wir eine Zunahme an technokratischem Politikstil, der von Experten gemacht wird, weil es natürlich komplexe Themenfelder sind. Aber am geflügelten Wort der Alternativlosigkeit zeigt sich: Der autonome Bürger, der in einer Demokratie entscheidet, ist dadurch außen vor, weil vorgegeben wird, was richtig ist und was nicht. Darin sieht man: Der Politik fehlt ein bisschen das Bewusstsein dafür, wer eigentlich der Souverän hier im Land ist. Das ist die Bevölkerung.
Viele Menschen haben laut Ihrer Studie dennoch das Gefühl, einen wertvollen Beitrag in der bundesdeutschen Gesellschaft zu leisten. Ist das nicht eine gute Basis?
Traunmüller: Ja. Die gute Nachricht ist: Es ist eben nicht alles politisch. In der Gesellschaft fühlen sich viele Leute angenommen, auch Minderheiten. Auch die Arbeit ist für viele eine Quelle von Sinn und Anerkennung. Da ist nicht alles perfekt, aber das ist ein gutes Fundament, auf dem man aufbauen kann.
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