Mannheim. Seit Monaten sprechen kritische türkische Tageszeitungen von „Schicksalswahlen“. Glaubt man den offiziellen Ergebnissen der türkischen Nachrichtenagentur Anadolu Ajansi erhielt Erdogan 49,25 Prozent der Stimmen, sein Herausforderer Kilicdaroglu 45,05 Prozent. Nun soll es eine Stichwahl am 28. Mai geben. In Mannheim mit seiner starken türkischen Gemeinde waren die Wahlen in Lebensmittelläden, Restaurants sowie Vereinen seit Wochen das wichtigste Thema. Zwar gelten die Mannheimer Türken als mehrheitlich konservativ und Erdogan-nah, doch nicht wenige Vereine sowie Kultureinrichtungen repräsentieren die liberale und säkulare Türkei.
2012 nach Mannheim gezogen
Der 41-jährige Serdar Derikesen verfolgte die Wahlen in der Türkei mit großer Anspannung. Wie viele Türken, die sich dem säkularen Erbe des Republikgründers Atatürk verschrieben haben, hoffte er auf den Sieg des liberalen Kandidaten. Derikesen, Vorsitzender des Mannheimer Atatürk Vereins und Maschinenbauingenieur von Beruf, zog 2012 nach Mannheim. Der zunehmend autoritäre Führungsstils Erdogans bewegten ihn und seine Familie dazu, in einem demokratischen und westlich orientierten Land ein neues Leben anzufangen.
Der Sieg des liberalen Kilicdaroglu würde das Land dauerhaft in eine bessere Zukunft führen, ist er sich sicher. Dass Erdogans Bündnis nun über die meisten Sitze im Parlament verfügt und somit mehr Einflussmöglichkeiten auf die Stichwahlen hat, verringert ihm zufolge die Chancen der Opposition auf einen Sieg. Im Falle eines Siegs Erdogans bei den Stichwahlen befürchtet Derikesen langfristig die Ausrufung einer islamisch-anatolischen Republik und ein Ende der säkularen und demokratischen Türkei.
Derikesen, der in der liberalen Gemeinde Mannheims wegen seines Engagements für Frauenrechte und Säkularismus sehr geschätzt wird, hat auch einen Appell an die deutsche Politik: „Hört endlich auf, eure Wählerstimmen aus frauenfeindlichen autoritären Vereinen zu rekrutieren. Nehmt uns liberale und säkulare Türken als Gesprächspartner wahr, besucht unsere Vereine. Wir sind jetzt und in Zukunft die richtigen und demokratischen Ansprechpartner für euch, wenn es um die Belange von türkischen Migranten geht“, so Derikesen. Auseinandersetzungen zwischen den unterschiedlichen politischen Gruppierungen unter Mannheimer Türken in Folge des Wahlergebnisses hält Derikesen zwar für möglich, hofft aber auf einen friedlichen Ausgang der Stichwahlen.
Enttäuschte Hoffnungen
Auch Nil Cikik-Merz erlebte die aufregendste Wahl ihres Lebens. „Es stand so viel auf dem Spiel. Dass der Oppositionskandidat nicht gewonnen hat, wie wir es erhofften, hat uns liberale Türken der Region getroffen“, so Cikik-Merz. Die 47-jährige Mannheimerin kennt viele Türken der Region, ob Konservative oder Liberale. In ihrem Alltag als Grundschullehrerin begegnet sie unterschiedlichen türkischen Gruppierungen. Die Polarisierung der letzten Jahre erlebt sie als beengend. Die einstige Solidarität und der starke Zusammenhalt in der türkischen Gemeinde in Mannheim seien durch Erdogans politische Reden, bei denen er Gegner diffamierte, stark belastet worden. „Im Laufe der letzten Jahre entstanden zwei Lager: pro oder contra Erdogan. Bei einem erneuten Sieg Erdogans bei den Stichwahlen, ist sie sich sicher, werde sich der Brain Drain, also die Abwanderung von Spitzenkräften aus Wirtschaft und Wissenschaft aus der Türkei in andere Länder, verstärken.
Den in der Türkei und unter den deutschen Auslandstürken weit verbreiteten Ängsten vor bürgerkriegsähnlichen Zuständen kann sich Sevim Cetinkaya nicht anschließen. „Wir kennen die Szenen aus den 1970er Jahren in der Türkei, als sich linke und rechte Jugendgruppen auf den Straßen bewaffnet gegenüberstanden. Nicht wenige starben damals. Solche Szenen halte ich aktuell nicht für möglich“, so Cetinkaya. Die 52-Jährige hat in ihrem Beruf als Psychologin regen Kontakt zu Mannheimer Türken. Zwar gebe es eindeutig zwei Lager, aber dass diese sich feindlich und unversöhnlich gegenüberstehen, glaubt Cetinkaya nicht.
Schlechte wirtschaftliche Lage
Erst am Abend der Wahlen reiste sie aus ihrem Türkei-Urlaub zurück und brachte viele, meist negative Eindrücke aus der Türkei mit. Die chronische Wirtschaftskrise, die sinkende Kaufkraft und die ausufernde Jugendarbeitslosigkeit belasten die Mehrheit der türkischen Bevölkerung.
„Die AKP hat in den letzten 20 Jahren systematisch alle Institutionen der Demokratie und Medien gleichgeschaltet, die Menschen mit Angst und Repressalien eingeschüchtert. Zudem fehlt uns in der Türkei eine Mentalität des Aufbegehrens gegenüber Autoritäten. Diese Faktoren können bei den Stichwahlen zu einem Sieg der AKP führen“, glaubt Cetinkaya. „Wer kann, verlässt das Land“, erklärt sie.
„Wissen Sie, wir liberalen Türken und die, also die konservativen Türken, haben in unserem Mannheimer Alltag wenig Berührungspunkte. Das war vor den Wahlen so und wird danach auch nicht anders“, glaubt Cetinkaya und schließt sich mit dieser Einschätzung der anderer liberaler Türken an. Dass die Stichwahl und ein potenzieller Sieg Erdogans etwas an diesen Parallelwelten ändern werde, glaubt Cetinkaya nicht.
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