Betroffener über Paragraf 175 und Entschädigung - Klaus Schirdewahn wurde in den 1960er Jahren wegen seiner Sexualität verhaftet – heute koordiniert er der die schwule Seniorengruppe „Gay & Grey“

Einst verhaftet, weil er schwul ist - heute Leiter der Gruppe "Gay and Grey" Mannheim

Von 
Lea Seethaler
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Klaus Schirdewahn vor dem Queeren Zentrum in der Mannheimer Innenstadt. © Lea Seethaler

Mannheim. Wenn Klaus Schirdewahn spricht, schließt er oft seine Augen. Er erinnert sich. Manchmal wirkt es sogar, als kneift er seine Augen voller Schmerz zusammen. Er erzählt von einem Tag im Jahr 1964. Schirdewahn ist 17, als sich sein Leben schlagartig ändert. In Ludwigshafen trifft er sich an diesem Tag mit einem Mann. Schließlich landen die beiden zusammen auf der Toilette eines Kaufhauses in der Bismarckstraße. „Wo sollten wir uns sonst treffen, wenn man keine eigene Wohnung hat“, so Schirdewahn.

Doch die beiden können sich nicht lange lieben: In Deutschland gilt Paragraf 175 - Schwulsein ist strafbar. „Unzüchtiges Verhalten“ wird damals auch Schirdewahn und dem Mann, den er trifft, vorgeworfen. Jener, 21 Jahre alt, kommt ins Gefängnis. „Ein Jahr hat er bekommen“, erzählt Schirdewahn. Und da ist plötzlich wieder dieser Blick, das Zusammenkneifen der Augen voller Schmerz. „Und ich musste in ,Therapie‘, weil ich war ja erst 17“, sagt er.

Der schlimmste Moment habe erst noch bevorgestanden, berichtet Schirdewahn. Der heute 74-Jährige musste, nachdem er verhaftet wurde, nach Hause kommen und erzählen, „was los war - die haben ja Fingerabdrücke genommen, Verbrecherfotos gemacht von vorne und von der Seite“, sagt Schirdewahn - und blickt nach unten. „Und dann musste ich ja nach Haus. Das war eigentlich das Schlimmste. Dann stand ich da, und ich habe gedacht, dass wenigstens meine Mutter zu mir hält.“ Aber dem war nicht so. „Du bist nicht mehr unser Sohn“, heißt es damals zu Hause. Ein Riss geht durch die Familie - und durch Schirdewahns Leben und Identität. „Es war ganz furchtbar. Ich habe mir schwere Vorwürfe gemacht. Vater dachte, er habe etwas falsch gemacht in seiner Erziehung.“

Der Vater, oft auch gewalttätig und streng, und eine „elterliche Generation, geprägt vom Dritten Reich und dessen Umgang mit Homosexualität“, machten ihm sein Zwangs-Outing noch schwerer, so Schirdewahn. „Wir hatten ja nicht mal einen Namen dafür damals“, sagt er. „,Homosexuell‘, wie heute, das hätte damals nie jemand gesagt“, erinnert er sich.

Ziel der „Therapie“, der sich Schirdewahn damals unterziehen muss, sollte sein, dass er danach „geheilt“ ist, berichtet er. Wieder kneift er seine Augen zusammen. Auf Nachfrage erinnert sich Schirdewahn, wo diese stattfand. „Es war in der Mittelstraße über dem Volksbad. Und da wurde mir dann gesagt: ,Jeder hat einmal so eine Phase. Das geht vorbei.‘ Ich musste regelmäßig zu Sitzungen kommen. Und am Ende hieß es dann: ,Jetzt suchst Du dir eine Frau, dann wird das.‘“ Schirdewahn blickt nun mit großen Augen: „Und irgendwann hab ich’s selbst geglaubt.“

Am Ende geht er mit einer Frau eine Beziehung ein. Heiratet sogar. Fügt sich dem Normalen. Beginnt so aber ein noch versteckteres Leben. „Ich musste sie in der Therapie vorstellen, und dann galt ich als geheilt“, sagt er. Rückblickend weiß Schirdewahn aber ganz genau, dass seine Frau „durch die Hölle ging“. Denn sie wusste irgendwann alles. „Sechs Wochen nach der Hochzeit habe ich mich wieder mit einem Mann getroffen“, beschreibt Schirdewahn. Es folgten viele „Tränen und Diskussionen“ zwischen ihm und seiner Frau. Am Ende stand das Fazit: „Das schaffen wir.“ Alle hätten dann gesagt: „Macht ein Kind. Ein Kind ist ein Bindeglied. Dann klappt die Ehe. Dann wird das.“ Nach acht Jahren Ehe wird seine Tochter geboren. Ein weiterer Wendepunkt.

Doch der wahre Wendepunkt geschieht, als Schirdewahn seine erste Männerliebe kennenlernt. Und eine versteckte Beziehung mit ihm eingeht. „Ich war schockverliebt“, erzählt er - und seine Augen weiten sich. „Fünf Jahre lebten wir quasi eine Ehe zu dritt“, sagt er. „Alle wussten es, haben es gesehen - aber wollten es nicht wahrnehmen. Es hieß dann halt: ,Er war ein Freund.‘“ Doch der Geliebte konnte nicht mehr und hat das Verhältnis gelöst, aber nicht die Freundschaft, die bis heute hält.

Schirdewahns neuem und heutigem Partner reicht es jedoch irgendwann - und er stellt ein Ultimatum. „,Ich oder die Familie‘, hat er gesagt“, so der 74-Jährige. Und damit endet das Verstecken. Vorerst. Schirdewahn und seine Frau trennen sich. „Meine Tochter hat die Trennung auf sich bezogen. Wie Kinder das manchmal machen, sie dachte, sie ist schuld. Das war sehr schwer für mich“, sagt Schirdewahn. Zu seiner Frau hat er heute keinen Kontakt mehr. Er und seine Tochter haben sich aber nach langer Zeit wieder angenähert. „Sie sagt: ,Du bist mein Papa. Ich lieb‘ dich‘“, beschreibt er.

Über „Gay and Grey“ und Infoabend am Mittwoch zu Paragraf 175

  • Interessierte an der Gruppe „Gay & Grey – Metropolregion MannheimLudwigshafenHeidelberg“ können sich unter gay.and.grey@web.de bei Klaus Schirdewahn melden.
  • Schirdewahn und Jan Bockemühl (Bundesinteressenvertretung schwuler Senioren e.V. – BISS) sprechen Mittwoch, 9. Februar, 19 Uhr auf einem Online-Informationabend am zum Thema: §§ 175/151 – Auswirkungen auf die queere Community.
  • „Die Strafverfolgung hat bei den älteren Generationen Spuren hinterlassen, aber die Folgen reichen bis in die Community und Gesellschaft von heute“, heißt es zum Vortrag: „Umso wichtiger ist es, die Geschichte zu kennen. Und auf die Möglichkeiten der Rehabilitierung und Entschädigung hinzuweisen“. Nur noch bis zum 21. Juli 2022 können Anträge gestellt werden.
  • Die Veranstaltung findet in der Lobby im Werkhaus des Nationaltheater Mannheim, Mozartstr. 9-11, statt und kann online auf Zoom unter folgendem Link verfolgt werden: Meeting-ID: 881 0257 4392, Kenncode: 285015
  • Die Räume sind barrierefrei zugänglich und es ist eine barrierefreie Toilette vorhanden. see

„Aber über eines reden wir nicht: über Kirche. Das haben wir so ausgemacht. Denn da kommt es immer zu Streit.“ Das Verhältnis zur Kirche beschreibt er so: „Ich war mit diesem nur ,Ehe zwischen Mann und Frau‘ ist normal, Gott, Kirche etc. aufgewachsen, ich war in der Evangelischen Kirche engagiert und aktiv von klein auf. Aber das mit meiner Identität zu vereinen, auch das war sehr schwer für mich, irgendwann ging es nicht mehr, dann bin ich ausgetreten.“

Es liegen Welten zwischen dem Jahr seiner Verhaftung und dem Jetzt, 2022. Doch wie sieht Schirdewahn die Lage von queeren Menschen nun? Auch in einer Stadt wie Mannheim, gerade vor dem Hintergrund des LGBTIQ-Freiheitsraumes? „Es wird viel geredet - und auch viel getan“, sagt Schirdewahn. „Manchmal fände ich es aber besser, wenn mehr getan als geredet würde.“ Besonders im Alltag. Es gebe zudem oft noch eine verkappte oder unbewusste Abneigung gegen Homosexuelle. „Dieser Satz: ,Ich hab ja nichts gegen Schwule, aber wenn ich zwei Männer sehe, die sich küssen, könnt ich . . .‘“ - das reicht für Schirdewahn schon.

„Und dann dieses Klischee vom verweichlichten Typen, wissen Sie, ich kenne Homosexuelle, die sind sowas von das Gegenteil von verweichlicht“, sagt er - und lacht. „Ja oder wenn dann CSD ist, und da rennen halt die Leute mit Federn auf dem Kopf und sonst wo rum, diese Stigmatisierung, die die Leute da betreiben und sagen: ,Guck diese Schwulen!‘, das ist einfach nicht in Ordnung.“

Es gehe gesamtgesellschaftlich aber voran. So ist Schirdewahn Gründungsmitglied im Queeren Zentrum Mannheim. Ein Ort der Vernetzung, Stärkung und Sichtbarmachung von queeren Menschen in der Rhein-Neckar-Region. „Aber auch hier müssen auf die Ankündigungen noch mehr Taten folgen“, sagt er. „Zum Beispiel warten wir als Queeres Zentrum immer noch auf einen Bauplatz für unser neues Zentrum.“

Sein Trauma der 1960er Jahre hat Schirdewahn indes zu einem Macher im Jetzt gemacht: Lange trat er öffentlich nicht auf, outete sich selbst spät. Das ist heute anders. Zudem koordiniert er nun die mittlerweile 25 Mitglieder starke Gruppe „Gay and Grey“ (deutsch: homosexuell und grauhaarig), sie ist ein Treffpunkt für schwule und bisexuelle Senioren. Sie sei keine Selbsthilfegruppe, obwohl sie ursprünglich aus einer solchen entstand, erklärt Schirdewahn. „Wir sind eine Freizeitgruppe mit Raum zum Austausch. Wir unternehmen viel, haben regelmäßig einen Stammtisch.“ Wir sind vernetzt, beraten auch mal, wenn jemand Schwierigkeiten hat. Es geht auch viel um das queere Leben im Alter, wenn es mal nicht so geht, dass wir dann füreinander da sind.“ Auch tausche man sich mit anderen schwulen Seniorengruppen, etwa in Köln, aus.

„Wenn sich die Gruppe trifft, dann merken wir oft: Unsere Generation ist das Verstecken gewohnt“, sagt Schirdewahn. „Wir treffen uns oft in den Räumen des Queeren Zentrums in Mannheim, aber das war manchen schon zu viel. Die wollten lieber versteckt oder inkognito irgendwo hin, etwas trinken.“ Auf die Frage, was das jahrelange Versteckspiel mit ihm gemacht hat, sagt Schirdewahn: „Ich bin ganz empfindlich auf Reaktionen von anderen, sehe oft etwas als Angriff oder spüre Ablehnung.“ Es gebe immer noch diese Situationen, „in denen man echt erschrickt“. Etwa letztens in der Bahn, erzählt er. In einer Jugendgruppe habe ein Junge einen anderen im Scherz beleidigt. „Es war so etwas wie ,Du pissblonde Schwuchtel‘. Und ich, mein Mann und ich, wir sind ganz schön erschrocken. Aber dann fanden wir es im Nachhinein auch echt grotesk, dass wir da so daneben saßen, als er das sagte.“

Seine Geschichte und seine Tagebücher hat Schirdewahn nun zwecks Archivierung ins „Schwule Museum“ nach Berlin gegeben. Seine Erinnerungen wurden zudem im Rahmen eines Zeitzeugenprojektes im „Archiv der Anderen Art“ von der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld durch ein Videointerview aufgezeichnet.

Betroffene des Paragrafen 175 können in Deutschland per Verfahren Entschädigungsansprüche beim Bundesamt für Justiz geltend machen. Schirdewahn hat das gemacht, mit Unterstützung der Bundesinteressenvertretung schwuler Senioren -mit Erfolg. Er gilt nun als strafrechtlich rehabilitiert und wurde mit mehreren Tausend Euro entschädigt. Er ermutigt andere Betroffene, die Ansprüche ebenso geltend zu machen. Noch bis Sommer dieses Jahres ist dies möglich.

Schirdewahn, gelernter Technischer Zeichner, hat indes im Ruhestand ein weiteres Hobby entdeckt. Er archiviert nun die Familiengeschichte, gestaltet Foto- und Erinnerungsbücher für seine acht Geschwister. „Mit denen ist immer etwas los“, sagt Schirdewahn und grinst. Er hat das Gefühl, dass er nun die Rolle übernommen hat, die Familie zusammenzuhalten. „Wenn Corona wieder besser ist, machen wir wieder unsere großen Feste, die ich organisiere“, sagt er - und seine Augen strahlen.

Auch sein Engagement für das Queere Zentrum und vor allem die Treffen der schwulen Senioren „in echt“ nehmen hoffentlich nach der Pandemie wieder Fahrt auf, wünscht sich Schirdewahn. „Die Senioren aus der Gruppe mögen’s mittlerweile im Queeren Zentrum, aber manchmal hätten sie’s gern noch etwas plüschiger hier“, sagt er beim Rausgehen, lacht und blickt auf die moderne und helle, lichtdurchflutete Einrichtung.

Redaktion Redakteurin und Online-Koordinatorin der Mannheimer Lokalredaktion

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