Selbstbestimmt sterben - Wie sollen Menschen in Deutschland sterben dürfen? Selbstbestimmt, hat das Bundesverfassungsgericht klargestellt. Ein Besuch bei Harald S. im Hospiz

Einschlafen und weg sein - ein Besuch in einem Hospiz

Von 
Stefanie Ball
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Wie sollen Menschen in Deutschland sterben dürfen? © Jens Kalaene

Wie sollen Menschen in Deutschland sterben dürfen? Selbstbestimmt, hat das Bundesverfassungsgericht in einem Urteil gesagt. Das schließt den Suizid und die Beihilfe hierzu ein. Harald S. findet das richtig, hat für sich aber entschieden, den letzten Schritt seines Lebens im Hospiz zu gehen.

Harald S., der seinen vollen Namen nicht nennen möchte, ist seit fast zehn Jahren krank. „Es ging immer leicht bergab“, sagt der 65-Jährige und deutet mit einer Hand eine leicht abfallende Kurve an. Dass es aber so abrupt so steil bergab geht, damit habe er nicht gerechnet. Seine Hand vollzieht eine steile Kurve nach unten. 2014 hieß es, er habe eine Sarkoidose, eine entzündliche Erkrankung, bei der sich knötchenförmige Gewebeveränderungen unter anderen in der Lunge bilden. Vor einem Jahr sei die Diagnose widerrufen worden, nun ist von einer allergischen Alveolitis, einer Entzündung der Lungenbläschen, die Rede. Doch so oder so: S. wird daran sterben, seine Lunge ist irreparabel geschädigt, und das weiß er auch.

Seit April ist er in Ilvesheim im Hospiz St. Vincent des Caritasverbandes Mannheim. „Zu Hause ging es nicht mehr.“ Zu Hause – das war schon zu jenem Zeitpunkt nicht mehr sein Zuhause, sondern das seiner Freundin. Sie möchte ihren Namen nicht nennen. Marlene F., wie sie hier heißen soll, hatte S. 2016 angeboten, zu ihr und ihrem Sohn nach Friedrichsfeld zu ziehen. Bis dahin hatte er noch seine eigene Wohnung auf der Vogelstang. Doch allein zu leben, fiel ihm zunehmend schwer. Also nahm er das Angebot an.

Die Corona-Zeit setzt ihm zu

S. war da bereits seit zwei Jahren Frührentner. Er hatte schon früher Atemprobleme gehabt, öfter Husten, vielleicht eine Allergie, dachte man. Wirklich ernst nimmt er es nicht. S. ist gelernter Maschinenschlosser, er ist später viel im Ausland auf Montage unterwegs, als Strahlenschützer in kerntechnischen Anlagen. Ab Sommer 2014 kommt er ohne mobiles Sauerstoffgerät nirgendwo mehr hin. 57 Jahre ist er damals alt, er wird für voll erwerbsunfähig erklärt. Statt zum Fußball spielen geht er nun zum Lungensport. Die Corona-Zeit setzt ihm zu, der Rehasport fällt aus, er hat Angst, sich mit dem Virus zu infizieren. Das könnte tödlich für ihn sein. „Ich bin vier Mal geimpft, wir sind alle mehrfach geimpft, um Harald zu schützen“, sagt Marlene F.

Harald S. ist seit fast zehn Jahren krank. © Stefanie Ball

Im Januar 2021 soll in der Thoraxklinik, der Lungenfachklinik des Universitätsklinikums Heidelberg, eine Bronchoskopie gemacht werden. S. geht es schlecht. Die Untersuchung der Lunge, bei der eine Sonde über die Nase oder den Mund in die Luftröhre eingeführt wird, scheitert fast, weil S. immer wieder heftige Hustenattacken hat. Das Ergebnis ist ein neuer Name für seine Beschwerden und die Gewissheit, dass es nicht mehr besser wird. Nie mehr.

Wenige Monate später, es ist Herbst, wird der Husten immer schlimmer, die Luft weniger. S. kommt erneut in die Thoraxklinik, diesmal auf die Palliativstation. Der Aufenthalt tut S. gut, bald kann er wieder entlassen werden. Es vergehen ein paar Monate, es ist jetzt Frühjahr 2022, da muss S. wieder in Heidelberg anrufen: „Ich kann nicht mehr.“ Die Ärzte sagen, es sei ein Bett frei, er könne sofort kommen. Für S. ist klar: So geht es nicht weiter. Er sagt zu seiner Freundin: „Ich gehe ins Pflegeheim.“ Doch eine Schwester und der Sozialdienst auf der Palliativstation, auf der S. wieder liegt, schlagen ihm ein Hospiz vor.

Hospiz ist begleiten zum Sterben

Es ist der 4. April, als S. sein Zimmer in Ilvesheim bezieht. „Hospiz ist begleiten zum Sterben“, sagt S. Das nehme er so für sich an? „Ja“, sagt er und weint. Er holt sich ein Taschentuch und wischt sich Tränen aus den Augen. „Fragen Sie ruhig weiter“, sagt er, „das gehört dazu.“ Er wäre so gerne noch verreist, vielleicht nach Florida zu den Freunden, die dort wohnen. Er hätte auch gerne an der Goldenen Konfirmation teilgenommen. Die evangelische Kirchengemeinde Edingen lädt am 10. Juli alle ein, die vor 50 Jahren zur Konfirmation gegangen sind. Auch S. hat eine Einladung erhalten. Aber er wird wohl nicht dabei sind. Vor zwei Wochen, am Samstag, hat er seine Lungengruppe gesehen, die trifft sich einmal im Montag in einem Restaurant zum Mittagessen. „Danach ging es mir drei Tage richtig schlecht, für meine Lunge ist das Hochleistungssport.“

Schon das Anziehen am Morgen, das Zähneputzen, das Fertigmachen am Abend fürs Bett sind eine Tortur. Obwohl ihm dabei eine Pflegekraft hilft. Durch das vernarbte Lungengewebe wird kaum noch Sauerstoff transportiert, sein Herz muss immer kräftiger pumpen, damit das Blut überhaupt zirkuliert.

Ob er nicht manchmal wütend ist auf das Leben, das dieses Ende für ihn bereithält? „Nein“, sagt S. „Doch“, sagt Marlene F., die Freundin, „erst vor zwei Tagen hast du geweint und gesagt: ,Warum trifft es mich?‘“ S. sagt, stimmt, jeder stelle sich wohl diese Frage, aber er habe sich damit abgefunden. „Ich weiß, es geht nicht anders, es gibt keine Alternative.“ Er wünscht sich, dass wenn es so weit ist, er einfach einschlafe und dann weg sei. Der Arzt habe ihm das zugesichert. S. fühlt sich wohl im Hospiz, für ihn ist es der richtige Ort. „1 plus“, sagt S. und meint die Arbeit von Pflegern und Ärztinnen.

Beratung für Suizidwillige

  • Assistierter Selbstmord, aktive, passive, indirekte Sterbehilfe? Was in Deutschland erlaubt ist und warum die Suizidbeihilfe neu geregelt werden muss, wird im Folgenden erklärt:
  • Direkte/Aktive Sterbehilfe (Tötung auf Verlangen) ist verboten. Spritzt ein Arzt oder ein Dritter einem Patienten ein tödliches Medikament, wird das nach § 216 Strafgesetzbuch bestraft (Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren).
  • Passive Sterbehilfe ist erlaubt. Ein schwer kranker Patient wird, sofern eine Patientenverfügung oder Willensäußerung vorliegt, nicht weiter behandelt, die Magensonde wird entfernt, die künstliche Beatmung abgestellt oder gar nicht erst begonnen. Lediglich die Basisbetreuung ist Pflicht (Körperpflege, Durstgefühl stillen, und so weiter).
  • Indirekte Sterbehilfe ist erlaubt. Durch eine Behandlung, die Gabe eines Medikaments etwa, das die Schmerzen eines Patienten im Endstadium lindert, wird in Kauf genommen, dass sich die Lebenszeit verkürzt. Der Tod tritt früher ein, als dies ohne die Behandlung passiert wäre.
  • Selbsttötung ist nicht strafbar, also ist auch die Beihilfe zum Suizid nicht strafbar. Dabei nimmt der Sterbewillige selbstständig eine Substanz zur Selbsttötung ein. Eine andere Person, ein Angehöriger, ein Arzt oder ein Sterbehelfer, hat hierzu einen Beitrag geleistet, zum Beispiel hat er die tödliche Substanz zur Verfügung gestellt.
  • Dürfen Vereine – wie in der Schweiz – einen assistierten Suizid anbieten? Der Gesetzgeber entschied 2015, dass sie das nicht dürfen und erließ einen neuen Paragrafen 217, der das unter Strafe stellt.
  • Fünf Jahre später, im Februar 2020, entschied dann aber das Bundesverfassungsgericht, dass das strafrechtliche Verbot geschäftsmäßiger Suizidassistenz, also der neue Paragraf, verfassungswidrig sei. Das im Grundgesetz verankerte allgemeine Persönlichkeitsrecht umfasse auch ein „Recht auf selbstbestimmtes Sterben“ und die „Freiheit, hierfür bei Dritten Hilfe zu suchen“. Mit dem Verbot sei die Selbstbestimmung aber unmöglich.
  • Nun muss der Bundestag die Suizidbeihilfe neu regeln. Dafür liegen drei fraktionsübergreifende Gesetzentwürfe vor, im Mai fand eine erste Orientierungsdebatte im Bundestag statt. Noch vor der Sommerpause sollen die Vorschläge in erster Lesung beraten werden.
  • Während eine interfraktionelle Gruppe von Abgeordneten ein Suizidbeihilfegesetz anstrebt, will eine andere Gruppe eine auf Wiederholung angelegte (geschäftsmäßige) Suizidassistenz im Strafrecht verbieten. Es soll aber möglich sein, freiwillig aus dem Leben zu scheiden. Vorausgesetzt, der Suizidwillige lässt sich zwei Mal im Abstand von drei Monaten von einer Fachärztin beziehungsweise einem Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie untersuchen und nimmt an einer ergebnisoffenen Beratung teil. 

Die Hoffnung lebt bis zum Schluss

Dass Menschen Angst vor Schmerzen haben und lieber sterben wollen, wenn diese unerträglich werden, kann er verstehen. Jeder sollte die Möglichkeit haben, seinem Leben ein Ende zu setzen, wenn es keine Rettung mehr gibt und ein Lebensende von Schmerzen und Qualen programmiert ist. „Bei Tieren macht man es ja auch, die werden eingeschläfert.“ Aber er hat ja keine Schmerzen. S. hebt eine kleine schwarze Tasche hoch. Es ist eine Schmerzpumpe, die ihn kontinuierlich mit Medikamenten versorgt, auch mit Morphium. „Wenn es mir schlechter geht, kann ich mir eine zusätzliche Dosis geben.“

Und S. hofft. Er hofft auf ein Wunder. Er hofft auf ein Medikament. „Ich weiß, dass es nicht mehr so lange geht, aber wie lange, das weiß niemand.“ Dass noch rechtzeitig Hilfe kommt, ein Medikament, das seine kaputte Lunge wieder gesund macht, diese Hoffnung will er behalten. „Die Hoffnung lebt, bis zum Schluss.“ Er glaube an Gott, sagt S., auch wenn er nicht in die Kirche gehe. Ob er eine Vorstellung davon habe, was nach dem Tod sei? „Vielleicht bin ich da oben und schaue runter“, sagt S. und zeigt an die Decke seines Zimmers.

Er wünscht sich eine Urnenbestattung im Garten der Erinnerungen in Schwetzingen, seine zwei Geschwister und Marlene F. wissen das. Eine Freundin von ihr, die an Krebs gestorben sei, sei auch dort beerdigt, erzählt sie. „Ich winke immer, wenn ich dort vorbeifahre.“

Aber jetzt sitzen Harald S. und Marlene F. erst einmal zusammen im Zimmer im Hospiz und spielen. Kniffel oder Kanaster. Wer beim Kartenspielen gewinnt? „Sie“, sagt S. und zeigt auf Marlene F. Die lacht.

 

Freie Autorin

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