Mannheim. Der Mann wird nur 39 Jahre alt. Bei einem Unfall mit einer Straßenbahn an der Kreuzung vor der Hauptfeuerwache in der Neckarauer Straße erleidet er tödliche Verletzungen. Denen erliegt er noch am Unfallort, heißt es im Polizeibericht. Es ist der 7. Oktober 2023, ein Samstagabend, etwa 21.15 Uhr, als sich die folgenschwere Kollision ereignet. Viel mehr steht damals nicht in der Pressemitteilung der Polizei. Auch nicht darüber, wie es zu dem Unfall kommen konnte.
Die Kreuzung Neckarauer und Fabrikstationstraße ist am 15. Mai die fünfte und letzte Station des Ride of Silence. Bei dieser Rundfahrt des Schweigens - so lässt sich der Name übersetzen - wird immer am dritten Mittwoch im Mai verstorbenen Radfahrern des vergangenen Jahres gedacht. Zwölf Männer und Frauen senken auf dem Almenhof den Kopf zu einer Schweigeminute für den 39-Jährigen. Zwei Stunden zuvor waren 20 am Wasserturm gestartet.
Einige Kritik an der Radinfrastruktur in Mannheim
Vorneweg fährt dabei ein Lastenrad, das ein Ghostbike - ein Geisterfahrrad - transportiert. Zum Gedenken und als Mahnmal wird das komplett weiß gestrichene Zweirad später auf einer Verkehrsinsel in der Rheingoldstraße aufgestellt. Dort ist die dritte Station dieses Ride of Silence. Und auch an dieser Kreuzung kam im vergangenen Jahr ein Fahrradfahrer bei einem Unfall mit einer Straßenbahn ums Leben.
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Unweit des Rheingoldplatzes fuhr der 70-Jährige aus dem Neckarauer Waldweg auf dem Gehweg, um auf die andere Seite der Gleise zu gelangen. Dabei missachtete er gegen 18.15 Uhr die rote Ampel, heißt es im Polizeibericht über den 24. Juni - „die Konsequenzen sind verheerend“. Eine Notbremsung des Straßenbahnführers konnte den Zusammenstoß nicht mehr verhindern.
Der Fall scheint klar. Kritik kommt bei Ride of Silence am Mittwoch vergangener Woche trotzdem aus der Radfahrgruppe. Wegen „fehlender Infrastruktur“ - der bestehende Radweg ist ein Umweg von etwa 500 Metern - sei der Mann gezwungen gewesen, so abzukürzen, meinen einige. Nimmt die Gruppe den 70-Jährigen da nicht etwas zu sehr in Schutz? „Ja“, räumt Ina Schäfers vom Mannheimer ADFC ein, „das ist kein gutes Beispiel.“ Dennoch weist sie darauf hin, dass trotz einiger positiver Entwicklungen in Sachen Radinfrastruktur noch vieles in der Stadt getan werden müsse. „Radfahren in Mannheim ist immer noch gefährlich“, sagt Schäfers.
Das Mannheimer Polizeipräsidium erfasst in seiner Statistik 1334 Unfälle mit Fahrrädern in Mannheim, Heidelberg und Rhein-Neckar-Kreis. 1026 Verletzte werden aufgezählt - und neun Todesfälle, vier davon in Mannheim. Ihrer wird beim Ride of Silence gedacht.
Tödliche Kollisionen auch in den Quadraten und in Seckenheim
Auch des 62-Jährigen, der am 9. Dezember 2023 in den Quadraten ums Leben kam. Dort, zwischen Kurpfalzgymnasium in M 6 und der Musikhochschule in N 7, steht bereits ein Ghostbike. Angehörige haben es aufgestellt. Laut Polizeibericht übersah der Mann beim Linksabbiegen das Auto eines 19-Jährigen, das von rechts kam. Bei der Mahnwache hieß es, „er ist 20 Meter durch die Luft geflogen“, schildert ein Mann, der beim Ride of Silence mitfährt. Er will seinen Namen nicht in den Medien lesen, gibt aber an, den Bruder des Getöteten zu kennen. Als er sagt, dass der 19-Jährige mit 70 Stundenkilometer durch die Straße gefahren sei, ist die Gruppe schockiert. Klavierklänge aus der Musikhochschule untermalen die Schweigeminute.
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„Das nimmt mich emotional schon sehr mit. Allein schon die Recherche zu den Unfällen“, berichtet Renate Raffelsiefen, die den Ride of Silence wie im vergangenen auch in diesem Jahr organisiert hat. Sie ist selbst überzeugte Radfahrerin. Sechs Ziele hat sie geplant. Kurzfristig wird die Fahrt zur letzten Station nach Seckenheim aus Zeitgründen abgesagt. Dort wurde am 29. September 2023 ein 68-jähriger E-Bike-Fahrer an der Kreuzung Suebenheimer Allee und Innerer Heckweg von einem „vorfahrtsberechtigten Seat frontal erfasst“, wie es im Polizeibericht heißt. Von einer Notoperation ist darin weiter die Rede. Raffelsiefen: „Es ist der vierte Todesfall.“
Müssen Bahnübergange in Mannheim sicher werden?
Bei zwei weiteren Stopps erinnert die Gruppe an zwei schwer verletzte Radfahrer: Am McDonald’s in der Neckarauer Straße, wo ein 34-jähriger Radfahrer am 31. März 2023 von einem abbiegenden Auto übersehen und angefahren wurde. Und am Bahnübergang in der Rheingoldstraße am Stollenwörthweiher, wo ein 51-Jähriger am 11. Oktober 2023 laut Polizei das gelbe Blinklicht übersah, das auf die querende Straßenbahn hinweist. „Die müssten noch sicherer gemacht werden“, fordert Renate Raffelsiefen rund ein halbes Jahr später, als der Ride of Silence dort anhält. Und sie erntet Zustimmung aus der Gruppe. Es komme zu oft zu Unfällen im Bereich von Haltestellen, sagt sie.
Laut Rhein-Neckar-Verkehrsgesellschaft (RNV) gebe es in den letzten Jahren jedoch keine „feststellbare Häufung“ von Unfällen mit Fahrradfahrern und auch „keine zunehmenden Probleme an Bahnübergängen“. Auf „MM“-Anfrage sagt ein Sprecher des Verkehrsunternehmens: „Grundsätzlich sind unsere Fahrerinnen und Fahrer an Bahnübergängen und ähnlichen Stellen aber besonders aufmerksam.“
Rätsel um verschwundenes Ghostbike in Feudenheim
Spekuliert wird an diesem Mittwochabend beim Ride of Silence öfter. So auch während des Stopps an der Hauptfeuerwache. Vielleicht wollte der Straßenbahnfahrer noch schnell trotz Rotlicht über die Kreuzung fahren, wirft ein Mann in die Runde ein. Unterdessen klemmt eine Mitfahrerin Blümchen auf den Gepäckträger des Ghostbikes, das Angehörige des Getöteten dort aufgestellt haben. „Es ist mir einfach ein Bedürfnis gewesen“, erklärt die Frau, die ihren Namen nicht sagen möchte. „So sehen auch andere: Man erinnert sich an die Person.“
Wie viele Ghostbikes in der Stadt stehen? Das wissen selbst die Beteiligten nicht. Am Mittwoch kommt der Ride of Silence an zweien vorbei, stellt noch ein drittes auf. Auf dem Waldhof-West und auf dem Marktplatz stünden weitere, sagt Ina Schäfers: „Angehörige pflegen sie oft sehr schön.“ Etwa in Feudenheim. Dort stand bis zu ihrer Umgestaltung kurz vor der Bundesgartenschau auch ein Ghostbike an der Haltestelle Talstraße. Mit Foto einer Frau, die dort am 14. November 2020 ihr Leben verloren hatte, Rosen am Lenker und Grabkerze am Hinterrad.
Niemand weiß, was damit passiert ist, das Raffelsiefen. Weiß es die RNV? Laut dem Sprecher nicht. Dass das Ghostbike dort stand, sei zumindest bekannt. „Auf jeden Fall würden wir ein solches Fahrrad nicht ohne Rücksprache mit den Aufstellern entfernen“, teilt er dem „MM“ mit. Man habe in der Vergangenheit lediglich vereinzelt darum gebeten, die Ghostbikes zu verschieben, wenn sie die Verkehrssicherheit oder den Betrieb beeinträchtigt haben. Grundsätzlich störten die weißen Fahrräder die RNV nicht, im Gegenteil: „Alles, was für das Thema Verkehrssicherheit sensibilisiert, ist auch in unserem Sinne.“
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