Interview

Ehemaliger Botschafter in Moskau zu Besuch in Mannheim

Pierre Lévy, französischer Diplomat und bis vor kurzem Botschafter in Moskau ist zu Gast in Mannheim – und berichtet Spannendes bei seinem Besuch.

Von 
Stefanie Ball
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Mannheim. Pierre Lévy stattet Mannheim einen Besuch ab, es ist das erste Mal, dass der französische Top-Diplomat, bis vor kurzem noch Botschafter in Moskau, in der Quadratestadt zu Gast ist – auf Einladung des Salon Diplomatique und des französischen Honoralkonsuls Folker Zöller.

Monsieur Lévy, als Russland die Ukraine überfallen hat, waren Sie Botschafter in Moskau. Wie haben Sie die Zeit erlebt

Pierre Lévy: Bevor ich Ihre Frage beantworte, möchte ich zunächst darauf hinweisen, dass ich mich im Ruhestand befinde, ich hier also privat spreche. Aber natürlich kann das Quai d‘Orsay, das Außenministerium, mir Missionen anvertrauen, und natürlich kann ich weiter engagiert sein. Wie könnte ich es angesichts dessen, was passiert, auch nicht sein?! In meiner Zeit als Botschafter habe ich dem Ganzen mit gemischten Gefühlen gegenübergestanden. Einerseits passiert da ein sinnloser Krieg, was traurig ist, andererseits war es für mich eine Gelegenheit, meiner Arbeit als Diplomat nachzugehen, und das unter extremen Bedingungen. Sich für Frieden einzusetzen, ist die wahre Berufung eines Diplomaten. Deshalb habe ich versucht, den Dialog mit den russischen Behörden aufrechtzuerhalten und alle Szenarien eines möglichen Waffenstillstandes oder gar Friedens auszuloten und darüber hinaus über die Zukunft der europäischen Sicherheit nachzudenken.

Wie weit wird Russlands Präsident Vladimir Putin noch gehen?

Lévy: Ich bin davon überzeugt, dass Präsident Putin bis zum Äußersten geht, um sicherzustellen, dass die Ukraine ein Land ohne Souveränität wird oder in diesen Zustand zurückkehrt. Putin hat drei Ziele: dass es in Kiew zu einem Regimewechsel kommt, dass die Ukraine demilitarisiert wird und auf einen NATO-Beitritt verzichtet und dass die Ukraine entwestlicht wird.

Was meinen Sie mit entwestlicht?

Lévy: Dieser Konflikt erinnert mich an die Matrjoschka. Wissen Sie, was ich meine, diese ineinander schachtelbaren russischen Puppen? Da ist die kleine Puppe, das ist die Ukraine, die nächstgrößere Puppe ist Putins Kampf gegen die Europäische Union, die NATO und die USA. Die dritte Puppe, das ist der Kampf um eine neue Weltordnung. Die Russen nennen sie die multipolare Weltordnung. Tatsächlich bedeutet das eine Welt, die aus Einflussbereichen besteht: jener Russlands, der Vereinigten Staaten und Chinas. Für Moskau würde das bedeuten, freie Hand in seinem „nahen Ausland“ zu haben – wie es im sowjetischen Sprachgebrauch heißt – und darüber hinaus auf dem europäischen Kontinent.

Sie sagen, Putin wird bis zum Äußersten gehen. Was heißt das?

Lévy: Die Zeit ist auf seiner Seite. Auch wenn das Land unter den Sanktionen leidet, die wirtschaftliche Lage nicht so gut ist, wie die Leute sagen. Trotzdem verfügt Moskau über diese strategische Geduld und sieht sich einem US-Präsidenten Trump gegenüber, der taktisch ungeduldig ist, der den Krieg unbedingt zum Abschluss bringen will.

Würde Putin ein NATO-Land angreifen, ein Nachbarland der Ukraine etwa?

Lévy: Nicht unbedingt. Ich denke, sein Hauptziel besteht wirklich darin, die Ukraine zu schwächen. Außerdem will er die Europäische Union und die NATO schwächen, ohne sie anzugreifen. Es gibt viele Möglichkeiten, dies zu tun, zum Beispiel durch Cyberangriffe, Sabotageaktionen oder durch die Verbreitung von Fake News, Falschnachrichten. Der Konfrontationskrieg, der Konflikt in der Ukraine, kann irgendwann aufhören. Es kann zu einer eingefrorenen Situation oder zu einem Waffenstillstand kommen. Die Konfrontation mit dem Westen aber wird weiter bestehen.

Was denken denn die Menschen in Russland, die Menschen auf der Straße über die Situation?

Lévy: Es gibt eine sehr große Propagandamaschinerie, die ständig erklärt, dass Russland angegriffen werde. Zweitens sprechen die Leute wenig, weil sie Angst haben, etwas Falsches zu sagen. Ich glaube, es gibt eine Minderheit, die für den ultranationalistischen Krieg ist, eine weitere Minderheit, die gegen den Krieg ist, und eine große Mehrheit, die einfach hofft, dass er endet.

Aber wie können die Russen auf die Idee kommen, dass sie angegriffen würden?

Lévy: Dazu kann ich Ihnen eine Anekdote erzählen. Das ist sehr interessant, wir nennen dies in geopolitischen Analysen oder Prognosen schwache Signale. Ich erinnere mich an mehrere Male im Jahr 2020, als ich im Rahmen von Vorlesungen oder Vorträgen, die ich hielt, Russen, darunter junge Studierende traf, die nachher zu mir kamen und sagten: „Herr Lévy, Herr Botschafter, ich hoffe, uns wird nichts passieren. Ich hoffe, Sie machen Ihre Arbeit gut“. Ich war sehr überrascht. Im Westen dachte niemand daran, gegen Russland in den Krieg zu ziehen, aber diese Mentalität war, wie Sie sehen, bereits vorhanden.

Wie setzt sich Europa hier zur Wehr, wie gebietet es Putin Einhalt?

Lévy: In der letzten Zeit hat es viele positive Entwicklungen gegeben. Erstens gibt es ein Bewusstsein dafür, dass das, was in der Ukraine passiert, auch unsere Länder und die Zukunft der europäischen Sicherheit betrifft. Zweitens sehen wir, dass sich die USA aus Europa zurückziehen. Das ist nicht neu, wir haben uns darauf vorbereitet, aber nicht genug, und wir hätten auch nicht gedacht, dass das so schnell und so brutal passieren würde. Hier sind alle Maßnahmen zu ergreifen, um sicherzustellen, dass Europa stark und in der Lage ist, für seine Sicherheit zu sorgen.

Was erwartet in dieser Hinsicht Paris von der neuen Regierung in Berlin?

Lévy: Die deutsch-französischen Beziehungen spielen hier eine ganz entscheidende, ja sogar die wesentliche Rolle. Die Frage, um die es geht, ist eine ganz erhebliche, die über die einfache Frage des Krieges Russlands gegen die Ukraine hinausgeht. Es geht um die Zukunft der Europäischen Union, und ich bin davon überzeugt, dass es große Fortschritte geben muss und wird.

Monsieur Lévy, Sie sind zum ersten Mal in Mannheim, haben sich mit Oberbürgermeister Christian Specht mit Schulklassen und Studierenden ausgetauscht. Wie steht es um die deutsch-französische Freundschaft? Ein Blick in die Statistik zeigt, dass immer weniger Schülerinnen und Schüler in Deutschland Französisch lernen, und auch in Frankreich ist Deutsch längst nicht erste Wahl.

Lévy: Ich bin außergewöhnlich herzlich empfangen worden, und die Schüler waren sehr reif und mit dem Herzen beim Dialog dabei. Aber es gibt tatsächlich Trends, die nicht sehr günstig sind, und ich denke, dass es hier weiterer Anstrengungen bedarf, um das Interesse hochzuhalten. Aber es ist auch wahr, dass die neuen Generationen vielleicht nicht wie wir diese Erinnerungen haben und dass sie viel mehr in einer globalisierten Welt zu Hause sind, in der Frankreich und Deutschland zwei Länder unter vielen sind.

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