"Ich habe das Gefühl, als hätte ich einen riesengroßen Teppich gelupft und zum ersten Mal gesehen, was drunter liegt", sagt Ilka Sobottke. Die Pfarrerin der Mannheimer Citykirche ist auch gut acht Wochen nach ihrer Rückkehr aus Chicago noch tief berührt und erschüttert von allem, was sie dort erlebt hat. Vor allem die vielen Gesichter des alltäglichen Rassismus in den USA haben sich ihr eingeprägt.
Auf eigenen Wunsch hat Ilka Sobottke am Chicagoer "Seminary Consortium for Urban Pastoral Education" (SCUPE) ein so genanntes "Kontaktstudium" absolviert. "Grundsätzlich ging es darum, sich mit dortigen Geistlichen darüber auszutauschen, was die Kirche für die Menschen in einer Stadt - vor allem für die Ärmsten und Schwächsten - tun kann", erklärt Sobottke, "doch für mich ist dort noch so viel mehr passiert. Ich habe einen echten Perspektivenwechsel erlebt."
Scharfe Trennung
Fast ausschließlich mit Schwarzen traf Ilka Sobottke in Chicago zusammen, erlebte zum ersten Mal die "umgedrehte Situation", als weißer, blonder Mensch in der Minderheit zu sein, verstand den Dialekt der schwarzen Kollegen nicht. Gleichzeitig berichtet sie mit leuchtenden Augen von der Inspiration, die sie durch die schwarzen Gemeindemitglieder erfuhr. Sie lernte die Gemeinde "Trinity United Church of Christ" kennen, in der Barack Obama, wie sie dort sagen, "sein soziales Bewusstsein entwickelte". Mit Bewunderung spricht sie von der "ungeheuren spirituellen Kraft", die von den Gottesdiensten und der gelebten Religiosität der Afroamerikaner ausgeht, und von ihrer "Ungebrochenheit und Widerständigkeit" trotz der scheinbar immer noch schlimmer werdenden rassistischen Umtriebe und deren Folgen.
Hautnah bekam die deutsche Besucherin mit, was für viele von uns nicht in ein positives USA-Bild passen mag: "Die Rassentrennung, die offiziell vor über 50 Jahren abgeschafft wurde, existiert nach wie vor - und zwar auf allen Ebenen der Gesellschaft. Mit einer Härte und Schärfe, die ich mir so nicht vorstellen konnte."
Eine Zahl macht schon vieles deutlich: "Etwa 150 000 Obdachlose - überwiegend Schwarze - leben in Chicago", berichtet Ilka Sobottke, "in Prozent gesehen, entspräche das 15 000 Obdachlosen in Mannheim."
Die schwarzen Jugendlichen, die von weißen Polizisten erschossen wurden, das Massaker von Orlando - diese Geschehnisse sind, so Ilka Sobottke, nur ein Bruchteil eines allumfassenden rassistischen Systems und der Gewalt, bei der Tag für Tag so viele Menschen zu Tode kommen. Mit spürbarer Wut berichtet die Pfarrerin von der US-Gefängnisindustrie: "Das ist die am schnellsten wachsende Industrie der USA", weiß sie, "ganze Städte leben davon, weiße Geschäftsleute werden damit reich und reicher, denn die Gefängnisse sind letztlich privat betriebene Unternehmen."
Sie betont, dass nicht nur überwiegend Schwarze im Gefängnis landen, oft schon wegen Bagatelldelikten, sondern auch ohne angemessenen Lohn, Gesundheitsversorgung und ohne jede Unterstützungsangebote zur Arbeit gezwungen werden. Auch nach der Entlassung seien die Menschen praktisch chancenlos: Die Bürgerrechte, die sie mit der Inhaftierung verloren hätten, blieben ihnen weiterhin entzogen. Damit sei eine Resozialisierung den wenigsten vergönnt. "Das ist nichts anderes als Sklaverei - unter einem anderen Deckmantel fortgeführt", sagt Sobottke.
Beklemmende Erfahrungen
Von vielen weiteren beklemmenden, ja unerträglichen Fakten weiß die Kirchenfrau zu berichten - da scheint es fast unglaublich, dass sie mit so viel positiver Kraft im Gepäck wieder in Mannheim gelandet ist. "Ich habe dort trotz allem so viel gute Energie gespürt", sagt sie nachdenklich, "und weiß jetzt wieder umso mehr zu schätzen, wie frei und sicher wir uns hier bewegen können".
Mit Blick auf die Situation hierzulande, auf die vielen Geflüchteten und andere "Außenseiter" in Mannheim, schöpft sie aus ihrem Chicago-Aufenthalt ein gestärktes Selbstverständnis: "Die Kirche muss denen einen Halt bieten, die 'down and out' ("am Ende", d. Red.) sind."
Eine deutliche Antwort hat Pfarrerin Ilka Sobottke auch auf die Frage, warum uns hier in Mannheim bekümmern sollte, was jenseits des Ozeans in den USA geschieht: "Solange es irgendwo auf der Welt Ungerechtigkeit gibt, gibt es nirgends Gerechtigkeit."
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