Zugunglück (II) - Ausnahmezustand für den Bahnhof und die Menschen / Die Stunden unter Verletzten, Rettern und wartenden Fahrgästen

Die schwere Nacht der Gestrandeten

Von 
Roger Scholl
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Am Sammelplatz am Bahnsteig 3: Hier versorgen Sanitäter und Notärzte die Verletzten, links sieht man den Rettungszug der Bahn.

© Prosswitz

Verbogener, zerrissener Stahl auf den Schienen, zwischen den Gleisen Kleidungsstücke aus aufgeplatzten Koffern, Blaulichtblitze, die die Dunkelheit durchzucken, Verletzte auf Tragen, Retter halten ihre Hände. Und auf den Bahnsteigen und in den Wartesälen Hunderte von Gestrandeten, die nicht wissen, ob und wie ihre Reise weitergeht. Die Nacht des Zugunglücks - der Bahnhof und seine Menschen im Ausnahmezustand.

Eine blonde Frau schiebt einen grau-blauen Roll-Koffer, die Normalzeituhr zeigt 22.11 Uhr, der Bahnsteig 3, dort, wo die Diesel des Tunnelrettungszug im Standgas brummen, wo die Retter hinter rot-weißen Flatterbändern den Sammelplatz für die Verletzten eingerichtet haben. Die Frau trägt eine Identifikationskarte an einem Band um den Hals, sie weist sie als Fahrgast des Unglücks-EC aus. "Wir waren doch schon fast im Bahnhof, dann war da so ein Geräusch", ihre Oberlippe zittert, Tränen vernebeln jetzt ihren Blick, "kein Schlag, aber so, als ob der Zug über was drüberfährt". Nein, verletzt sei sie nicht, "ich war im anderen Wagen, dahinter". Sie habe nicht gewusst, was da vor sich geht, "ich hab's gar nicht realisiert, irgendwie bin ich raus, und draußen hat man dann Menschen rufen hören, alles lief irgendwie gleichzeitig ab". Sehr gut hätten sich die Retter gekümmert um sie, "ganz menschlich". Aber jetzt müsse sie weiter, "ich will meinen Freund anrufen", sagt sie und fieselt ein Handy aus der Hosentasche, während sie mit langsamen Schritten Richtung Unterführung läuft.

Weiter vorne, am Sammelplatz, beugt sich ein Sanitäter in orangegelber Jacke über einen bärtigen Mann, der auf dem Bahnsteig kauert. Er trägt eine Halskrause, der Retter hält ihm die Hand, dann helfen seine zwei Kollegen dem Verletzten auf die Trage und rollen ihn davon. "Wie geht es Ihnen jetzt?", fragt einer seiner Begleiter, Schweißtropfen sammeln sich unterm Rand seines weißen Helmes. "Es geht, der Kopf tut noch ein bisschen weh", murmelt der Mann auf der Trage, dann hebt er den Kopf und seine Augen suchen Blickkontakt zu seinen Rettern: "Danke, danke für alles."

Ein paar Minuten später im Untergeschoss des Bahnhofsgebäudes, fast menschenleer ist es hier, nur an einem Imbissstand in der Nähe des Treppenaufgangs haben sich zwei Männer Wasser geholt. Andrej und Mahmoud wollten ihren Kumpel abholen, "aber der ist nicht angekommen bis jetzt, es gehen ja keine Züge mehr". Sie haben eben erst von dem Unglück erfahren, "Leute haben es uns gesagt". Der Freund sei nicht im EC gewesen, das wissen sie. Man spekuliert gemeinsam über die Ursachen des Zusammenstoßes, "irgendwer hat Fehler gemacht", sagt Mahmoud, "alles schlimm, schlimm, schlimm". Sie wollen weiter warten.

Gedränge am Schalter

Oben, in der Eingangshalle, drängen sich die Gestrandeten dieser Nacht um den Informationsschalter der Bahn, von draußen vor der Eingangstür hört man das Gegröle eines Betrunkenen, der Beamte in der blauen Uniform der Bahn hat Mühe, das Stimmengewirr vor seinem Stand zu übertönen. "Ja, Busse", sagt er und Holger Lehner wendet sich ab. Er muss in die Pfalz, "ich war was trinken mit Freunden hier, ich weiß jetzt auch noch nicht, wie ich nach Hause kommen soll".

Es ist 0.21 Uhr jetzt, zwischen Busbahnhof und Post schieben zwei Sanitäter eine leere Trage in ihren Rettungswagen, ihre Arbeit hier ist getan. Bevor sie einsteigen und losfahren, reichen sie sich die Hände.

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