Mannheim - Geriater Heinrich Burkhardt kritisiert den massiven Einsatz von Beruhigungsmitteln in der Pflege – das führe zu Depressionen und Stürzen

„Die Menschen werden dauerhaft ruhiggestellt“

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Kai Wiedermann
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Ein betagter Mann schaut aus dem Fenster seines Krankenhauszimmers. © Istock

Mannheim. Mehr Personal und bessere Konzepte - das fordert Heinrich Burkhardt im Vorfeld des diesjährigen Deutschen Pflegetages, der in der kommenden Woche in Berlin stattfinden wird. Trotz einer alternden Gesellschaft, so der Direktor der Medizinischen Klinik mit Schwerpunkt Geriatrie am Uniklinikum Mannheim, fehle hierzulande der Mut, gute Ideen breiter umzusetzen.

Herr Burkhardt, Sie sagen, dass viele Menschen mit kognitiven Einschränkungen, sei es durch eine Demenz oder durch Verwirrtheit, in Deutschland falsch behandelt werden. Woran machen Sie das fest?

Heinrich Burkhardt: Versorgungsdaten zeigen, dass in stationären Pflegeeinrichtungen, aber auch in Krankenhäusern und bei der ambulanten Pflege in hoher Anzahl Beruhigungsmittel, sogenannte Sedativa, eingesetzt werden. Und zwar als Dauertherapie, also jeden Tag. Die Menschen werden ruhiggestellt.

Warum passiert das?

Burkhardt: Weil sich der demenzkranke oder desorientierte Patient im Tagesablauf nicht mehr richtig zurechtfindet. Er kommt zehnmal aus dem Zimmer und fragt das Gleiche. Oder er gerät in Angst oder in einen extremen Zustand der Erregung.

Was ist falsch am Ruhigstellen?

Burkhardt: Es gibt Situationen, in denen man Beruhigungsmittel einsetzen muss. Etwa wenn der Patient in eine psychische Krise gerät. Wir sollten diese Medikamente aber nur punktuell als Krisenlöser einsetzen. Außerhalb schwerer Krisen ist wissenschaftlich nicht bewiesen, dass Sedativa die Orientierung verbessern. Bewiesen ist da eher etwas anderes.

Chef der Geriatrie in Mannheim

Privatdozent Heinrich Burkhardt, 1962 geboren, arbeitete nach dem Medizinstudium ab 1989 im Institut für Differentielle Psychologie der Justus-Liebig-Universität in Gießen.

Ab 1990 war er in verschiedenen internistischen Abteilungen in Gießen, Heidelberg und zuletzt in Mannheim tätig, an der dortigen Universitätsklinik in der Medizinischen Klinik mit Schwerpunkt Geriatrie.

Seit 2011 ist er deren Direktor. Burkhardt ist ein Experte beim Thema Pharmakologie bei älteren Patienten, also bei der Behandlung von Erkrankungen mithilfe von Arzneimitteln.

 

Was denn?

Burkhardt: Dass der Einsatz von Beruhigungsmitteln und Psychopharmaka große Risiken hat. Patienten werden depressiv oder stürzen. Ein Sturz bedeutet Krankenhausaufenthalt, Knochenbrüche, Verletzungen und Schmerzen.

Welcher Ansatz wäre besser?

Burkhardt: Ich empfehle einen Blick in die Beneluxstaaten. Da gibt es überzeugende Forschungsergebnisse, dass man mit nicht medikamentösen Maßnahmen viel erreichen kann: den Alltag strukturieren etwa oder auch sogenannte Meaningful Activities.

Können Sie das näher erklären?

Burkhardt: Wir brauchen Strukturen, die die Patienten noch einigermaßen nachvollziehen können und die einen Alltagssinn ergeben. Alles, was wir tun können, um eine vertrauensvolle Atmosphäre zu schaffen, kann hier hilfreich sein. Stil, Setting, der Umgang der Mitarbeiter untereinander, Lichtkonzept, Lärmkonzept, Zuwendung oder auch die Möbel. Menschen mit einem sensiblen Gehirn brauchen Stressfreiheit.

Was müsste man Ihrer Meinung nach tun?

Burkhardt: Die Arbeitsabläufe, etwa in der stationären Pflege, müssten umgestellt werden. Es geht heute vor allem um Effizienz. Aber das kann empfindliche Menschen stressen. Was wieder zu mehr Arbeit in der Pflege führt. Wir müssen Konzepte des Entstressens einbringen, etwa mit Demenz- und Seniorenbegleitern oder Ergotherapeuten.

Wie beurteilen Sie die Personalsituation in der Pflege demenzieller oder sehr gebrechlicher Menschen?

Burkhardt: Wir machen es uns zu bequem, wenn wir sagen, dass wir nichts ändern können, weil wir zu wenige Pflegekräfte haben. Und warum sollten wir eigentlich nicht mehr Pflegekräfte haben können? Wir wollen doch in einer humanen Gesellschaft leben. Wenn wir uns nur an der ökonomischen Effizienz abarbeiten, sind wir auf dem falschen Dampfer.

Woher sollen die Pflegekräfte kommen?

Burkhardt: Ich glaube, dass viele Leute gern im Pflegeberuf arbeiten würden. Aber nicht zu solchen Bedingungen. Wenn Sie den Umgang mit dem Patienten entstressen, entstressen Sie auch das Berufsfeld. Wir müssen zudem unterstreichen, dass dies eine zutiefst humane Tätigkeit ist, die entsprechend unterstützt und entlohnt werden muss.

Die Eltern der Babyboomer sind jetzt alt. Bald werden auch die Babyboomer alt sein. Wie viel Zeit bleibt, um die Altenpflege zu verbessern?

Burkhardt: Wir tun in Deutschland so, als gäbe es den demografischen Wandel nicht. Dabei müssen wir kreative Möglichkeiten suchen, wie wir Altenheime gut aufbauen können, wie wir neue Impulse in der Betreuung Demenzkranker bekommen. Da kommt nichts in Deutschland. Die Ideen kommen alle aus dem Ausland.

Wie groß werden die Probleme noch?

Burkhardt: Es wird nicht so sein, dass der Anstieg der älteren Menschen exponentiell immer so weitergeht. Und auch die mittlere Lebenserwartung wird nicht endlos steigen. Trotzdem werden wir uns darauf einrichten müssen, dass ein Drittel der Bevölkerung ältere Menschen sind, vielleicht auch 40 Prozent. Wir müssen bei der Pflege den Weg in die moderne Welt schaffen und dabei die Humanität erhalten. Das muss gelingen. Die Generation der Alten hat das verdient.

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