Mannheim. Sie wählen rechts, sprechen fast nur Russisch und unterstützen den russischen Machthaber Wladimir Putin. Solchen und anderen Klischees sehen sich Russlanddeutsche ausgesetzt.
An Interesse und Wissen um die wechselvolle Geschichte der rund 2,5 Millionen in Deutschland lebenden Russlanddeutschen mangelt es in unserer Gesellschaft in weiten Teilen. Die Journalistin Ira Peter, die mit ihrer Familie als Neunjährige von Kasachstan nach Deutschland umsiedelte, hat darüber ein Buch geschrieben: „Deutsch genug?“ Ein Interview über ihre Erfahrungen und Konflikte der Russlanddeutschen.
Frau Peter, Sie betonen in Ihrem Buch, dass Russlanddeutsche keine Russen sind, die in Deutschland leben …
Ira Peter : Der Begriff Russlanddeutsche ist irreführend. Ich benutze ihn zwar auch, weil er sich in der Öffentlichkeit und Wissenschaft etabliert hat, aber Kasachstan-Deutsche oder Ukraine-Deutsche wäre genauer. Wir sprechen von Deutschen, die vor mehr als 200 Jahren ins zaristische Russland ausgewandert sind. Das hat nichts mit der Russischen Föderation von heute zu tun.
Was belastet die Beziehungen zwischen Deutschen und Russlanddeutschen eigentlich so sehr?
Peter : Deutsche wissen wenig über Russlanddeutsche, und es werden über die Medien oft bestimmte Klischees bedient: In den 1990-Jahren waren es der Drogenkonsum oder die Kriminalität. Heute werden Russlanddeutsche als AfD-Wähler oder Putin-Versteher dargestellt. Weil diese Problemfelder oft bedient wurden und werden, ist ein verzerrtes Bild entstanden, das sich verfestigt hat. Viele Russlanddeutsche fühlen sich davon ausgegrenzt und ziehen sich teils auch aus diesem Grund ins Private zurück.
An der AfD-Wählerschaft ist aber etwas dran. Warum sind Russlanddeutsche denn so anfällig für völkisches Denken?
Peter : Die jüngste Bundestagswahl zeigt, dass sie nicht anfälliger sind als hier geborene Deutsche. Laut Schätzungen von zwei Professoren haben etwa 20 Prozent der Russlanddeutsche die AfD gewählt, also genau wie der Bundesdurchschnitt. Russlanddeutsche waren in der Sowjetunion als deutsche Minderheit stigmatisiert und mussten sich innerhalb dieser Gruppe schützen. Das Deutsche war für sie identitätsstiftend. Die AfD spricht diese deutsche Komponente bei Spätaussiedlern gezielt an und grenzt sie von anderen Eingewanderten ab. Natürlich verfängt das bei manchen Russlanddeutschen, die ja immer um ihre deutsche Herkunft ringen mussten.
Ich nenne das die postsowjetische Belastungsstörung. Das klingt zwar witzig, aber dahinter versteckt sich etwas Tieftrauriges
Was macht die AfD anders in ihrer Ansprache als die übrigen Parteien?
Peter : Die AfD hat sich die russlanddeutsche Zielgruppe schon früh sehr genau angeguckt und etwa als erste Partei das Wahlprogramm ins Russische übersetzt. Sie hat innerhalb der Partei eine Arbeitsgruppe gegründet, die sich nur um russlanddeutsche Belange kümmert, und gezielt Spätaussiedler innerhalb der Partei als Identifikationsfiguren eingesetzt. Sie sind strategisch gewiefter und aggressiver. Es ist schade, dass sich die anderen Parteien nie wirklich um uns bemüht haben, mit Ausnahme der CDU. Denn wir sind unter den eingewanderten Menschen die größte Wählergruppe.
Sie schreiben von ein paar „Special Effects“, die Russlanddeutsche angeblich haben. Welche sind das?
Peter : Ich nenne das die postsowjetische Belastungsstörung. Das klingt zwar witzig, aber dahinter versteckt sich etwas Tieftrauriges. Die Generation der Großeltern war von Deportation betroffen, in jeder Familie wurden Menschen verhaftet oder erschossen, alle Familien wurden enteignet. Die Generation unserer Eltern hat unter der Diskriminierung gegenüber Deutschen in der Sowjetunion gelitten. All diese Erfahrungen schweben in den Familien immer noch mit.
Ira Peter und ihre Lesungen
Die Lesungen von Ira Peter in Mannheim finden am Freitag, 21. März, um 19 Uhr i m Stadthaus N1, am Sonntag, 1. Juni, auf dem Maifeld Derby und am Mittwoch, 25. Juni, um 18 Uhr im Marchivum statt.
Ira Peter ist freie Journalistin . Sie schreibt unter anderem für ZEIT online, die taz, die Frankfurter Rundschau und arbeitet für das SWR Radio
Als Deutsche aus Kasachstan setzt sie sich seit 2017 öffentlich wie etwa im Aussiedler-Podcast „Steppenkinder“ mit russlanddeutschen Themen auseinander
Peter wurde mehrfach für ihre Arbeit ausgezeichnet, unter anderem 2022 mit dem „Goldenen Blogger Award “ für ihren Blog, den sie als Stadtschreiberin von Odessa 2021 geführt hatte, 2022 mit dem „Russlanddeutschen Kulturpreis des Landes Baden-Württemberg“ für „Steppenkinder“ und 2023 mit dem „Recherchepreis Osteuropa“ für ihre Recherche zu Frauen mit Behinderungen in Armenien
Im März 2025 erscheint ihr erstes Buch „Deutsch genug? Warum wir endlich über Russlanddeutsche sprechen müssen“ . Das Buch kostet 22 Euro (Goldmann Verlag).
Woran hapert die Integration von Russlanddeutschen?
Peter : Das Interessante ist ja, dass wir statistisch gesehen tiptop integriert sind. Wenn man sich die wirtschaftlichen Faktoren und die Bildung anschaut, sind Russlanddeutsche Bilderbuch-Eingewanderte.
Aber irgendwie ja auch nicht, weil sie sich selbst nicht zugehörig fühlen.
Peter : Genau, das ist der Widerspruch. Manche haben sich emotional nicht integriert. Das hängt unter anderem damit zusammen, dass manche Russlanddeutsche hier nicht als Deutsche anerkannt worden sind. Auch ihre Lebensleistungen in Form der mitgebrachten Bildungsabschlüsse wurden nicht anerkannt. So etwas kränkt verständlicherweise. Deshalb nehmen viele, vor allem Ältere, nicht aktiv an der Gesellschaft teil, sind ängstlich, misstrauisch und eher verschlossen. Das ist nicht förderlich, wenn man mit einer Gesellschaft in den Dialog treten möchte.
Ich kenne viele Familien, in denen es zu Brüchen kam, weil Kinder und Eltern unterschiedliche Sichtweisen auf den russischen Krieg in der Ukraine haben
Das Thema Ukraine sorgt in vielen russlanddeutschen Familien für Zwist. Wie sind Sie zu diesem Ergebnis gekommen?
Peter : Das steht auch im Zusammenhang mit der AfD. Sie und Putin sind ja quasi ein Team. Sie bedienen identische Narrative im Zusammenhang mit der Ukraine. In manchen postsowjetischen Familien verfängt das, vor allem wenn Teile der Familie nur russische Medien konsumieren. Das führt zu Konflikten zwischen den Generationen. Ich kenne viele Familien, in denen es zu Brüchen kam, weil Kinder und Eltern unterschiedliche Sichtweisen auf den russischen Krieg in der Ukraine haben.
Was entgegnen Sie Ihren eigenen Verwandten und Bekannten, die zur AfD tendieren?
Peter : Wenn ich im Whatsapp-Status von Verwandten sehe, dass AfD- oder Kreml-Propaganda verbreitet wird, frage ich die Person, woher sie das hat und ob sie meint, dass das stimmt. Ich kann deren Position und Sichtweise nicht ändern, aber es ist mir trotzdem wichtig, dranzubleiben, denn sonst verliere ich sie völlig. So kann ich wenigstens ein paar Argumente reinbringen und sie zum Nachdenken anstoßen.
Also Fakten anstatt verklärter Erinnerung?
Peter : Ja, auch. Sie freuen sich ja auch alle auf mein Buch, und ich hoffe, dass sie es aufmerksam lesen und ihnen das eine oder andere Lichtlein aufgeht. Ich dekonstruiere darin das positive Sowjetnarrativ, das Putin in den vergangenen Jahrzehnten aufgebaut hat. Dass die Sowjetunion wieder gefeiert wird, zerlege ich ordentlich. Vielleicht erinnern sie sich dadurch daran, wie sehr ihre Großeltern darunter gelitten haben.
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