Häusliche Gewalt - Beratungs- und Clearingstellen melden Anstieg von Hilfesuchenden / Polizei sieht Corona-Krise nicht als Ursache

Deutlich mehr Hilferufe nach Lockerungen

Von 
Lisa Uhlmann und Miray Caliskan
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Lange gespenstisch ruhig: Mit den Lockerungen und durch das neue Polizeiprogramm fassen mehr Opfer von häuslicher Gewalt Vertrauen – und melden sich öfters bei Polizei und Beratungsstelle. © dpa

Mannheim. „Lieber sterbe ich einmal, als jeden Tag aufs Neue“ – diesen Satz schleudert Marina Hebel (Name von der Redaktion geändert) ihrem Ex-Mann entgegen, als er sie auf dem Heimweg von der Arbeit abfängt. Er packt sie am Hals, droht ihr, sie umzubringen. Diese Begegnung ist nur eine von vielen Tiefpunkten, die Hebel an diesem Tag erzählt. Die Mutter von drei Töchtern hat lange Schläge und Beleidigungen von einem Mann eingesteckt, den sie einmal geliebt, sogar geheiratet hat. „Es war wie im Gefängnis. Er hat gedroht: Wenn ich die Polizei rufe, tötet er mich und nimmt die Kinder mit“, erinnert sich die 33-jährige Mannheimerin.

Enormer Anstieg

Bis heute wird sie von ihrem Mann terrorisiert, zieht sogar in ein Frauen- und Kinderschutzhaus – trotz Trennung, mehr als 25 Anzeigen, Kontaktverbot und Gerichtsverfahren. Ständig lauert er ihr und den Mädchen auf, schlägt sie sogar einmal krankenhausreif. Weil sie gerade wieder vor Gericht dafür kämpft, dass ihr Ex-Mann für seine Taten bestraft wird, raten Hebels Anwältinnen, anonym zu bleiben.

„Es braucht Mut, sich Hilfe zu holen, anderen anzuvertrauen. Die meisten Frauen fühlen sich schuldig, sind beschämt und sprechen lange mit niemandem darüber“, weiß Anette Heneka, vom Fraueninformationszentrum (FIZ). In der Beratungsstelle helfen die Expertinnen Betroffenen wie Hebel, sich vom gewalttätigen Partner zu lösen – mit Hilfe von Jugendamt, Anwälten und Polizei. Die sogenannte Clearingstelle arbeitet dabei eng mit Ordnungshüterinnen zusammen, die Fälle von häuslicher Gewalt direkt übermitteln.

Nach einer ersten Auswertung meldet das FIZ Erschreckendes: Mit den neuen Lockerungen sei die Zahl der Hilfesuchenden angestiegen, zum Teil überdurchschnittlich hoch. Allein in diesem Jahr, sagt Anette Heneka, habe man bis zum 10. August 77 Meldungen von der Polizei erhalten. Dagegen waren es 2019 zum gleichen Zeitpunkt nur 49 Meldungen. „Das ist ein enormer, erschreckender Anstieg“, bewertet Heneka die Zahlen.

Auch Ruth Syren, Leiterin des Frauen- und Kinderschutzhauses Heckertstift vom Caritasverband Mannheim, die die Clearingstelle mitträgt, berichtet von einem sprunghaften Anstieg: „Wir haben schon jetzt mehr Meldungen erhalten als im ganzen vergangenen Jahr.“ Insgesamt vermelden die Träger der Clearingstelle also 154 Fälle bis August, 2019 waren es insgesamt bis dahin 98 Fälle. Sind also Lockdown und Angst vor Ansteckung die Auslöser für den Anstieg von häuslicher Gewalt? Oder hat es sie schon davor gegeben, unterschwellig und hinter verschlossenen Türen? Es gibt mehrere, verschiedene Antworten: Einen bestimmen Grund auszumachen, hält etwa Geschäftsführerin Nazan Kapan vom Verein Mannheimer Frauenhaus für schwierig.

„In jedem Haushalt gibt es andere Gründe, wieso eine Frau, die in der Corona-Zeit Gewalt erfahren hat, sich nicht direkt Hilfe suchte“, sagt Kapan. Vielleicht hat sie es nicht geschafft zu fliehen, weil ihr Partner wegen des Lockdowns permanent zu Hause war. Oder sie musste wegen den Schulschließungen viel zu viel organisieren.

Das Coronavirus aber, sagt Kapan, kann als „übergeordnete Gefahr“ eingestuft werden. Die Angst, sich in einer Sammelunterkunft zu infizieren, übertreffe die eigene Gewalterfahrung. „Dieses Phänomen wurde auch von anderen Frauenhäusern festgestellt. Am Anfang der Krise war es dort erschreckend ruhig, fast schon gespenstisch. Nur wenige Frauen suchten Hilfe, obwohl wir auf telefonische Beratung umgestellt haben“, erinnert sich Kapan (wir berichteten). Ob die Gewalt gestiegen ist, kann auch Leiterin Syren vom Heckertstift nicht beantworten. „Mir scheint aber eher, dass sie sichtbarer geworden ist.“ Vor allem trage das Modell „High Risk“ des Polizeipräsidiums dazu bei, dass die Gesetzeshüter viel sensibler auf Gewalt in sozialen Beziehungen reagiere.

Hohe Dunkelziffer

Nachgehakt im Mannheimer Präsidium lässt sich zwar aktuell eine leicht steigende Tendenz der Zahlen für häusliche Gewalt feststellen. „Die Pandemie ist aber nicht die Ursache für den Anstieg, den gab es schon vorher“, so ein Polizeisprecher. Auch hier verweist man auf das „High Risk“-Modell, das mit persönlichen Ansprechpartnerinnen gezielt Betroffenen helfen soll. Die neue Koordinationsstelle führe dazu, dass sich nun mehr Frauen Hilfe suchen – bislang verborgene Gewaltausbrüche würden so sichtbarer.

Was passiert, wenn Fälle dort landen und Frauen als gefährdet eingestuft werden, weiß Marina Hebel aus Erfahrung: Mit einem Anruf samt Passwort kann sie nun die Polizei alarmieren. Warum die dreifache Mutter ihre Geschichte teilen will? „Ich will anderen Mut machen. Durch die Hilfe bei der Beratungsstelle ist mir klar geworden: Ich muss da nicht allein durch, gemeinsam mit den Anwältinnen schaffe ich das!“

Gewalt gegen Frauen: Clearingstelle, Fallzahlen und Hilfe

  • Die Clearingstelle wird vom FIZ des Mannheimer Frauenhaus und vom Frauen- und Kinderschutzhaus Heckertstift des Caritasverband getragen. Kontakt zu Betroffenen übermittelt die Polizei mit deren Einverständnis. Die Beraterinnen nehmen dann Kontakt auf, um über Schutzmaßnahmen aufzuklären.
  • Häusliche Gewalt hat im Südwesten schon vor der Pandemie einen Rekordstand erreicht. 13 050 Fälle wurden für 2019 in der Kriminalstatistik erfasst, ein Plus von 7,8 Prozent gegenüber 2018. Für Mannheim wurden im 2019 zwei Fälle erfasst, bei dem ein weibliches Opfer durch den Ehe- oder Lebenspartner oder einen Familienangehörigen getötet wurde. 2018 gab es kein Fall, 2017 fünf Fälle, 2016 kein Fall und 2015 ein Fall.
  • Hilfe für Betroffene: Polizei: 110; FIZ, Tel.: 0621/37 97 90; Mannheimer Frauenhaus, Tel.: 0621/74 42 42; Frauen- und Kinderschutzhaus Heckertstift, Tel.: 0621/41 10 68; Soziale Dienste/Kinderschutzstelle, Tel.: 0621/2 93 37 00. 

Redaktion Seit 2018 als Polizeireporterin für Mannheim in der Lokalredaktion.

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