Gesellschaft

Der Mannheimer Frauenbuchladen "Xanthippe" wird 45 Jahre alt

Am 4. November 1978 wurde der Frauenbuchladen "Xanthippe" in den Mannheimer Quadraten gegründet - und ist inzwischen der älteste bestehende Frauenbuchladen Deutschlands. Doch das ist nicht der einzige Grund zum Feiern

Von 
Agnes Polewka
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Der Frauenbuchladen „Xanthippe“ befindet sich seit der Eröffnung in T3, 4 in den Quadraten. © Agnes Polewka

Mannheim. Regine Elsässers Blick ruht auf einem Stapel alter Fotografien. „Das ist so unwirklich“, sagt die 77-Jährige. Auf den verblassten Bildern rauchen Frauen im Innern einer Buchhandlung, probieren Hüte an, trinken Tee, streichen ein Schaufenster, sitzen in Grüppchen zusammen, in Gespräche vertieft. Unter den Bildern lugt ein vergilbter Zeitungsartikel hervor. „In den früheren Räumen der Wohnberatung (T3, 4) wird am Samstag, 4. November, ein Frauenbuchladen eröffnen, der so heißen soll, wie die Ehefrau des altgriechischen Philosophen Sokrates: Xanthippe“, heißt es darin. Der Text dieser Redaktion ist vor 45 Jahren erschienen und markiert die Geburtsstunde des Mannheimer Frauenbuchladens „Xanthippe“ in den Quadraten.

Nur noch drei Frauenbuchläden

Die Eröffnung der „Xanthippe“ fiel in eine Zeit, in der die Frauenrevolte einen neuen Höhepunkt erreichte. In den 70er-Jahren – 50 Jahre nach der Einführung des Frauenwahlrechts in Deutschland – erstritten Feministinnen grundlegende Reformen des Ehe- und Familienrechts: Ehefrauen mussten nicht mehr den Familiennamen des Mannes annehmen, Ehemänner konnten nicht mehr die Kündigung für ihre Frau einreichen, weil sie der Meinung waren, sie vernachlässige den Haushalt.

Gründerin Regine Elsässer, Mitinhaberin Yvonne Wenzel und die Buchhändlerinnen Vera Stanyak und Julia Gast © Agnes Polewka

Überall in Deutschland entstanden in dieser Zeit Frauenhäuser, Frauengesundheitszentren, Frauencafés – und Frauenbuchläden. In Mannheim gründeten die Historikerin Brigitte von Seckendorff und die Germanistin Regine Elsässer die „Xanthippe“, einen der ersten Frauenbuchläden Deutschlands. Heute gibt es bundesweit nur noch drei, und die „Xanthippe“ ist der älteste von ihnen.

„Das war einfach die Zeit“, sagt Regine Elsässer und nippt an ihrem Kaffee in der Lese-Ecke der „Xanthippe“, benannt nach der kämpferisch-selbstbewussten Frauenfigur aus der Antike, die lange negativ konnotiert war, Stereotype keifender, widerspenstiger Frauen bediente. Auf einem Beistelltisch stehen Tassen mit floralen Mustern und frisch aufgebrühter Tee für die Kundinnen und Kunden.

Beratungsstelle für Frauen

Einrichtungen wie der Buchladen seien nötig gewesen, sagt Regine Elsässer. Vor ihr auf dem Tisch liegen neben den Fotografien und vergilbten Zeitungsartikeln auch eine Reihe von Plakaten. Das Poster zur Eröffnung der Buchhandlung, gestaltet von Emma-Cartoonistin Franziska Becker, die aus Mannheim stammt und inzwischen in Köln und den USA lebt.

Die „Xanthippen“ Gabi Reiser, Regine Elsässer, Yvonne Wenzel und Vera Stanyak (v. l.) mit Ministerin Claudia Roth bei der Preisverleihung. © Baumann

In der Literaturszene gab es damals immer noch große Verlage, die ausschließlich Werke von Männern veröffentlichten. Und auch gesamtgesellschaftlich lag noch vieles im Argen: Die Vergewaltigung in der Ehe war nicht strafbar, ein Schwangerschaftsabbruch dagegen schon.

„Wir waren eine Paragraf 218-Beratungsstelle“, sagt Regine Elsässer. Ihr gegenüber sitzt Yvonne Wenzel, die 1985 begann, in der Xanthippe als Buchhändlerin zu arbeiten. Heute sind beide Inhaberinnen des Ladens. Yvonne Wenzel nickt. „Die Pro Familia hat Beratungsunterlagen zu uns gegeben.“

Der Paragraf 218 im Strafgesetzbuch legt bis heute fest, dass Schwangerschaftsabbrüche illegal sind, eine Abtreibung unter bestimmten Voraussetzungen jedoch straffrei ist.

Wohlfühlort in den Quadraten

Die „Xanthippe“ entwickelte sich schnell zum Anlaufpunkt für Frauen – unabhängig von Alter, Religion, Herkunft oder sexueller Orientierung. In einem alternativen Viertel, zwischen einem Naturkostladen, einem Schreibwarengeschäft und einem Naturschuh-Händler.

Die Frauenbuchhandlung „Xanthippe“ war von Beginn an Anlaufstelle für politisch interessierte Frauen – und noch viel mehr. © Privat

„Wir wollten Frauen mehr Raum geben“, sagt Yvonne Wenzel. Die Xanthippen organisierten Workshops, Ausstellungen, Lesungen. Über viele Jahre. Und während ein Jahrzehnt in das nächste überging, veränderte sich etwas in der Gesellschaft. Das Feminismus-Regal schrumpfte. Mühsam erstrittene Privilegien wurden Normalität. „Wir wollten immer, dass es uns gibt, damit wir überflüssig werden“, sagt Regine Elsässer, die sich vor einigen Jahren aus dem aktiven Ladenbetrieb zurückgezogen hat.

Dann erkennt sie jemanden auf einem der Bilder wieder, die Frauen lachen. Ohnehin wird viel gelacht in der „Xanthippe“. „Uns allen – inzwischen sind wir zu fünft – ist es sehr wichtig, an einem Ort zu arbeiten, an dem wir uns so wohl fühlen wie die Menschen, die bei uns einkaufen“, sagt Vera Stanyak, die neben Yvonne Wenzel sitzt. Die 45-Jährige arbeitet ihr halbes Leben schon in der „Xanthippe“, die ein Ort sein will, an dem Menschen zusammenkommen, um gemeinsam Literatur und Sprache zu entdecken. Und um Antworten auf ihre drängendsten Fragen zu finden.

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Viele Kundinnen – und ja, auch Kunden – kämen seit Jahren, sagt Yvonne Wenzel. Sie haben die großen Momente der Xanthippen miterlebt: Lesungen der feministischen Autorin Irmtraud Morgner und der schwedischen Schriftstellerin Marie Hermanson, Freundinnenabende und Frauendisco, die Beteiligung der Buchhändlerinnen an den Frauenkulturtagen in der Alten Feuerwache, Signierstunden mit Buchillustrator Mehrdad Zaeri, der den Xanthippen freundschaftlich verbunden ist.

„Inzwischen kommen die Kinder unserer ersten Kundinnen mit ihren Söhnen und Töchtern zu uns“, sagt Yvonne Wenzel. Die Stammkunden – darunter auch viele junge Familien – haben die Buchhandlung durch die Pandemie getragen, als der Laden am 17. März 2020 schließen musste. Sie kamen auch danach wieder und feierten in diesem Jahr ein großes Ereignis mit „ihren“ Xanthippen: Der Laden in den Quadraten wurde zum ersten Mal mit dem Deutschen Buchhandlungspreis in der Kategorie „Hervorragende Buchhandlungen“ ausgezeichnet. Mit dem Preis würdigt die Bundesregierung kleine, inhabergeführte Buchhandlungen, die ein „anspruchsvolles und vielseitiges literarisches Sortiment oder ein kulturelles Veranstaltungsprogramm anbieten“, heißt es in der offiziellen Mitteilung. Als die Mail im Posteingang der Xanthippen einging, sei das ein großer Moment gewesen, sagt Yvonne Wenzel. Keine von ihnen habe gewusst, wohin mit der ganzen Freude. Und am 2. Oktober fuhren die Xanthippen nach Stuttgart zur Preisverleihung mit Kulturstaatsministerin Claudia Roth.

Offen für Neues

„Die Zeiten haben sich geändert, aber wir haben uns auch verändert“, sagt Yvonne Wenzel. Der Fokus liege natürlich weiterhin auf der Literatur, auf politischer Literatur, Belletristik und auf Kinder- und Jugendbüchern. „Aber wir sind stets offengeblieben und haben uns immer auch von nachfolgenden Generationen inspirieren lassen.“

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Von
Lisa Uhlmann
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Heute widmet sich eine Bücherwand der queeren Bewegung und auch der Feminismus nimmt wieder mehr Raum ein. „Seit einigen Jahren ist das Interesse daran wieder größer, man merkt, dass eine neue Generation heranwächst“, sagt die 63-Jährige. Ihr Blick wandert über die Regale der 80 Quadratmeter großen Buchhandlung, in denen Bücher stecken, die berühren und inspirieren, alte und neue Werke, Bestseller und Non-Books mit regionalem Bezug. Dazwischen findet sich Schönes: Koshi-Klangspiele, Naturspielzeug und Postkarten, etwa von Mehrdad Zaeri. Und Unsichtbares: Privilegien, die die Xanthippen in 45 Jahren mit-erstritten haben.

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