Mannheim. Die Diagnose kommt aus heiterem Himmel. Walter Leibinger muss zum routinemäßigen Checkup, er arbeitet bei der Deutschen Flugsicherung, da sind regelmäßige fliegerärztliche Untersuchungen Pflicht. Der Arzt ist entsetzt, als er den Blutdruck misst. 220 zu 140. „Sie müssen sofort ins Krankenhaus“, sagt er.
Dort erhält Walter Leibinger die niederschmetternde Diagnose: akutes Nierenversagen. „In drei Monaten spätestens werden Sie zur Dialyse müssen“, sagt der Arzt. Es sind drei Wochen. Walter Leibinger merkt es an der ständigen Übelkeit und am Mundgeruch.
Wartezeit für postmortale Organspenden beträgt sieben bis neun Jahre
Sein Leben ist auf den Kopf gestellt. Alle zwei, drei Tage muss er fortan ins Dialysezentrum, am Tag danach fühlt er sich oft schlapp, ein Tag Erholung, dann geht es wieder zur Dialyse. Er arbeitet weiter, in Teilzeit, doch die Dialyse zehrt an ihm. Auch psychisch.
Die Alternative: eine Organspende. „Es war klar, dass dies die Lebensqualität deutlich verbessern würde“, sagt Walter Leibinger. Doch die Aussichten: Sie sind gering. Die Wartezeiten für postmortale Organspenden, also die Spende von Organen Verstorbener, beträgt sieben bis neun Jahre. Rund 8400 Menschen stehen auf der Warteliste für ein Spenderorgan, die allermeisten warten auf eine Niere, viele von ihnen vergebens. Sie sterben, bevor ein geeignetes Organ gefunden wurde.
Strenge Kriterien bei Lebendorganspenden
Walter Leibinger ist gerade 53 Jahre alt geworden, seine Frau Beate ist elf Jahre jünger. Sie haben Pläne, wollen arbeiten, reisen, ihre Töchter heranwachsen sehen. So steht für Beate Leibinger bereits am Tag der Diagnose fest: „Ich spende eine Niere.“ Auch die Kinder, sie sind damals 15 und 21 Jahre alt, sagen: „Wir wollen dir helfen, Papa.“
Eine Nichte, die in Kanada lebt, schreibt: „Du kannst meine Niere haben.“ Walter Leibinger sagt, es habe einen bewegenden Eindruck hinterlassen, zu erfahren, wozu andere Menschen bereit seien. Für ihn sei klar gewesen, das Organ seiner Frau anzunehmen. „Das ist die Person, die mir am nächsten steht.“ Es gibt allerdings ein Problem: Ihre Blutgruppen stimmen nicht überein. Bei Organtransplantationen kann das ein Ausschlusskriterium sein.
Im Universitätsklinikum Mannheim: Transplantation trotz unterschiedlicher Blutgruppen möglich
Das Universitätsklinikum Mannheim ist eines der wenigen Krankenhäuser, das schon früh, seit dem Jahr 2004, Blutgruppen übergreifend Organe transplantiert. Walter und Beate Leibinger, die in Rheinland-Pfalz wohnen, fahren nach Mannheim. Sie haben Glück: Die Uniklinik erklärt sich bereit, eine Transplantation vorzunehmen. Trotz unterschiedlicher Blutgruppen.
Ein Ärztemarathon beginnt. An Lebendorganspenden sind strenge Kriterien geknüpft. Auch wenn der Spender in der Regel keine gesundheitlichen Einbußen davonträgt, stellt die Operation zur Entnahme ein gewisses Risiko dar. Außerdem soll sichergestellt sein, dass die Spende aus freien Stücken erfolgt. Dafür muss sich Beate Leibinger den Fragen einer Ethikkommission stellen.
Die Ärzte sagen, sie müsse ihre Niere nicht spenden, sie könne noch in der Minute vor der Operation ihr Einverständnis zurückziehen. Doch Beate Leibinger ist sich sicher. „Er hat es verdient.“ Wenn ihr Mann sie morgen verlassen würde, wäre es trotzdem die richtige Entscheidung gewesen. „Mir ist ganz wichtig zu betonen, dass kein Abhängigkeitsverhältnis besteht, damals nicht und heute auch nicht.“
Die Operation ist ein Erfolg. Beate Leibinger hat eine Niere weniger, und Walter Leibinger hat ein neues Leben. Ihre Geschichte erzählen sie gerne und oft. Sie wollen zeigen, was Gutes aus der Organspende erwachsen ist, und würden sich wünschen, dass mehr Menschen dazu bereit wären. Deutschland liegt bei Organspenden weltweit im hinteren Mittelfeld. Während in Spanien und den USA mehr als 40 postmortaler (nach dem Tod) Organspender auf eine Million Einwohner kommen, sind es in Deutschland zehn.
Widerspruchsregelung als Alternative zur Zustimmungslösung
Seit Jahren wird unter anderem auf politischer Ebene darüber diskutiert, ob eine Widerspruchsregelung die bessere Lösung wäre. Dadurch würde jede Person als Organspender gelten, wenn sie nicht zu Lebzeiten einer Organspende widersprochen hat. Heute gilt die Zustimmungslösung - nur wer einer Organentnahme zustimmt, kommt als Spender in Frage. Die Zustimmung kann beispielsweise mittels Organspendeausweis oder durch Eintragung im neuen Spenderegister erfolgen.
„Es hapert an der Aufklärung“, sagt Walter Leibinger. Auch in ihrem Bekanntenkreis hätte viel Unkenntnis über die Organspende geherrscht. „Wer sich mit dem Thema beschäftigt, muss sich mit dem eigenen Tod beschäftigen, das schieben die meisten Menschen gerne weg.“ Walter Leibinger sagt, er habe einen Organspendeausweis, seit er 17 Jahre alt ist. Dass es ihn eines Tages selbst treffen würde, hätte er nie in Erwägung gezogen. „Auch das ist ein Problem, man denkt immer, ,mit mir hat das nichts zu tun‘.“
Für Beate Leibinger ist es eine abstrakte Vorstellung, dass ihr Organ im Körper ihres Mannes arbeitet. „Das grenzt an ein Wunder.“ Die Operation wird auf den 1. Juli terminiert, sie dauert drei Stunden, drei Stunden für Beate Leibinger, drei Stunden für Walter Leibinger. Nach einer Woche kann Beate Leibinger das Krankenhaus verlassen, nach zwei Wochen ihr Mann.
Um eine Abstoßung des fremden Organs zu vermeiden, müssen Organtransplantierte Medikamente nehmen, Immunsuppressiva, die das körpereigene Abwehrsystem bremsen. Das macht Walter Leibinger anfällig für Infektionen mit Viren, Pilzen, Bakterien. „Im Winter werden Sie mich in keinem öffentlichen Verkehrsmittel antreffen“, sagt er. Um sich von Erkältungen zu erholen, braucht er deutlich länger als früher. Jeder Infekt birgt zudem die Gefahr, dass das Spenderorgan angegriffen beziehungsweise abgestoßen wird.
Spenderniere funktioniert im Schnitt 15 Jahre lang
Im Schnitt funktioniert eine gespendete Niere 15 Jahre. Bei Walter Leibinger sind es jetzt 14 Jahre. „Ich habe eine Premiumniere, die hält 30 Jahre“, scherzt er. 15 Jahre sind ein Durchschnittswert, viel hängt von der Lebensweise des Empfängers ab. Walter Leibinger ist inzwischen 67 Jahre alt, er achtet auf seine Ernährung, treibt Sport, alle zwei Monate hat er eine routinemäßige Untersuchung bei seinem Nephrologen. Zwei Mal im Jahr unterzieht er sich zudem in der Mannheimer Uniklinik einer großen Untersuchung.
Nach der Transplantation arbeitet Walter Leibinger noch zwei Jahre Vollzeit bei der Flugsicherung, dann geht er in den Ruhestand. Wenn seine Frau bald aufhört zu arbeiten, werden sie in den Süden Deutschlands ziehen, dort kommt Walter Leibinger ursprünglich her.
„Wir leben nach dem Motto ,think pink‘, denke rosa“, sagt Beate Leibinger. Im Alltag spiele das Thema keine Rolle. „Es wäre psychisch destruktiv, wenn ich mich fortwährend damit auseinandersetzen würde,“ sagt Walter Leibinger. Er lebe heute aber intensiver und bewusster. „Mir wurde ein zweites Leben geschenkt.“ Den 1. Juli feiert die Familie wie einen Geburtstag.
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