Mannheim. Cem Özdemir (Grüne) sorgte jüngst mit seinem Ruf nach einem Social-Media-Verbot für unter 16-Jährige für Furore. Doch wann werden die Netzwerke zum Suchtproblem?
Egal ob TikTok, Instagram oder WhatsApp: „Problematisch wird der Konsum, wenn er zentrale Lebensbereiche beeinträchtigt“ – etwa Schlaf, Leistung, Beziehungen oder das eigene Wohlbefinden, sagt Suchtforscher Patrick Bach vom Mannheimer Zentralinsitut für Seelische Gesundheit.
Debatte um Social Media Verbot unter 16: Bin ich social-media-süchtig?
„Auch wenn es die ‚Social‑Media‑Sucht‘ als solche noch nicht als offizielle Diagnose gibt, sehen wir Verhaltensmuster wie bei anderen Verhaltenssüchten.“ Nämlich: „Kontrollverlust, zunehmende Nutzungsdauer, Entzugserscheinungen beziehungsweise Reizbarkeit bei eingeschränktem Zugang und anhaltender Konsum trotz negativer Folgen“, erklärt Bach.
Es spiele erst einmal keine Rolle, welche App genutzt wird: Auch WhatsApp kann – je nach Nutzung – als Social‑Media‑App gelten, so Bach.
Auch Medienpädagoge Jürgen Held vom Mannheimer Jugendamt betont: „Es fällt mir schwer, von Sucht und Abhängigkeit zu sprechen, weil die Problematiken nicht erst mit einer diagnostizierten Sucht gefährlich sind – der Begriff ,problematischer Umgang‘ passt besser.“
Social-Media-Sucht: Schneller Selbsttest – herausfinden, ob es problematisch ist
Selbst checken kann man sich laut Beratungsstellen etwa mit folgenden Fragen über drei Kriterien :
- Erstens: Kommt es zu Kontrollverlust – aus ‚nur noch ein Clip‘ wird eine Stunde, trotz Vorsatz?
- Zweitens: Gibt es Entzugsähnliches wie Reizbarkeit oder Unruhe bei Beschränkung?
- Drittens: Bleibt die Nutzung trotz klarer Nachteile wie Schlafmangel, Leistungsabfall, Konflikten oder Rückzug?
Wer zwei oder mehr Punkte deutlich bejaht, „sollte die Nutzung strukturiert verändern und bei anhaltenden Problemen professionelle Unterstützung suchen“, so Bach. Held ergänzt: Diese Warnsignale sollten ernst genommen werden – früh eingreifen sei besser als spät.
Erste Hilfen: Möglicher 14‑Tage‑Plan bei problematischem Social Media-Verhalten
- Tag 1–3: Baseline/Status quo erfassen. Tägliche Nutzungsdauer je App, Uhrzeiten, wann wird genutzt? (z. B. Langeweile, Stress) und Folgen (Schlaf, Stimmung) notieren.
- Tag 4–7: Harte Reize entschärfen. Push‑Benachrichtigungen für Feeds ausschalten, Apps vom Homescreen in Ordner, Logout aktivieren, 30‑Minuten‑Tageslimit je Kurzvideo‑App setzen.
- Tag 8–10: Reize ersetzen. Zwei fixe Offline‑Routinen pro Tag (z. B. 20 Minuten Bewegung, 20 Minuten Lesen oder Musik ohne Handy), Handy aus dem Schlafzimmer, Wecker analog.
- Tag 11–14: Stresstest. 48 Stunden Social‑Media‑Pause (Messenger erlaubt) und Effekte auf Schlaf, Stimmung und Fokus dokumentieren; danach gezielte Re‑Einführung mit klaren Zeitfenstern.
- Wenn trotz dieser Schritte Kontrollverlust, Entzugsgefühle und anhaltende wie im Text genannte Beeinträchtigungen bleiben, kann das ein Signal für professionelle Unterstützung sein. see
Was besonders „anziehend“ ist: Langer und unbewusster Social Media-Konsum
„Problematisch sind vor allem Plattformen, die langes und unbewusstes Konsumieren fördern“, sagt Bach. „Kurzvideos, endloses Scrollen und stark individualisierte Inhalte“ erhöhten das Risiko exzessiver Nutzungsmuster.
TikTok werde zwar oft genannt, „aber ähnliche Mechanismen finden sich heute in vielen Apps“, so Bach. Experten wie Held und Bach blicken in ihrer Arbeit auch auf den Gestaltungsaspekt: Algorithmen und Designs setzen auf Cliffhanger, Autoplay (automatisch startende Videos), Push‑Reize und soziale Bestätigung (Likes und Aufrufe) – eine „Belohnungsschleife“ zum Dranbleiben entsteht.
Debatte um Social Media Verbot: Folgen im Alltag – von subtil bis massiv
„Viele Betroffene berichten, dass es ihnen psychisch immer schlechter geht und sie kaum noch reale soziale Kontakte haben“, sagt Bach. Bei schweren Verläufen gefährdeten Menschen durch exzessive Nutzung „Beruf, Familie und soziale Existenz und ordnen fast alle Aktivitäten der Nutzung unter“ – schafften es aber nicht, sie selbst zu begrenzen.
Held sieht in der pädagogischen Praxis in Mannheim „ein breites Spektrum“: Von Konzentrationsproblemen, Reizbarkeit und FOMO/FOJI‑Ängsten (Fear of Missing Out: Angst etwas zu verpassen; Fear of Joining In: Angst bewertet zu werden) über Schlafstörungen bis hin zu Partnerschaftskonflikten (Phubbing, also Partner wird ignoriert, weil man aufs Handy schaut).
Aber auch Cybermobbing, Sextortion (Erpressung etwa durch Nacktbilder) oder riskante Challenges sind häufig. Extremfälle häuften sich seit dem Ende der Coronakrise. „Etwa Jugendliche, die durch Erpressungen ihr ganzes Erspartes verloren haben, bevor sie Hilfe suchen.“
Social-Media-Sucht – was tun als Eltern : Begleiten statt verbieten, handyfreie Bereiche wichtig
„Sinnvoll ist es, das Gespräch zu suchen: Begleitung statt pauschaler Verbote – ein kompletter Verzicht ist unrealistisch“, rät Bach. Wichtig sei, offen nach Hintergründen fragen, negative Folgen gemeinsam sichtbar zu machen und konkrete Pausen zu vereinbaren. Hilfreich seien handyfreie Zeiten und Bereiche, weiß auch Held. So könnten Esstisch und Schlafzimmer handyfrei bleiben. Auch alternative Aktivitäten, die reale Belohnung bringen und – wenn nötig – technische Hilfsmittel wie Zeitbegrenzungs‑Apps, seien effektiv.
Eigenes Verhalten reflektieren, Offline‑Zeiten vorleben, klare, gemeinsam erarbeitete Regeln schaffen.
Held unterstreicht die Vorbildrolle von Eltern: „Eigenes Verhalten reflektieren, Offline‑Zeiten vorleben, klare, gemeinsam erarbeitete Regeln schaffen und Medienkompetenz aufbauen – nicht nur Risiken, auch die sinnvolle, kreative Nutzung besprechen.“
Social Media Sucht bekämpfen: Wenn es ernst ist - Hilfe holen
Wichtig sei, bei Leidensdruck und bei bei „erheblichen Beeinträchtigungen professionelle Hilfe hinzuzuziehen.“ Held verweist auf lokale Netzwerke: Jugendförderungen, Erziehungs‑, Sucht‑ und psychologische Beratungsstellen erfahren steigende Nachfragen – „gut, wenn Anlaufstellen bekannt sind und niedrigschwellig erreichbar bleiben“.
Sein Tipp für Familien: der Mediennutzungsvertrag. Kinder sollen bei den Regeln mitreden – das steigere die Akzeptanz.
Die negativen Auswirkungen eines exzessiven Medienumgangs, „der von gewinnorientierten Unternehmen mitverursacht wird“, beschäftige die Fachstelle im Jugendamt so intensiv, dass seit September 2024 eine zweite medienpädagogische Stelle bei der Jugendförderung besetzt wurde, sagt Held.
Glossar - Mannheimer Medienpädagoge über häufigste Phänomene in der Beratung
•Konzentrations- und Aufmerksamkeitsprobleme: („TikTok-Effekt“), wodurch längere Aufgaben schwerer fallen.
•Realitätsverzerrung : Dauerhafte Konfrontation mit gefilterten, idealisierten Inhalten kann das eigene Selbstbild verzerren.
•Erhöhte Reizbarkeit und Unruhe bei „Entzug“: ähnlich wie bei stoffgebundenen Süchten.
•Angstzustände : beispielsweise FOMO (Fear of Missing Out) und FOJI (Fear of Joining In – Angst bewertet zu werden).
•Depression : Beispielsweise verstärkt der Vergleich mit dem „perfekten“ Online-Leben Gefühle von Minderwertigkeit.
•Schlafstörungen : Durch späte Bildschirmnutzung und blaues Licht.
•Vernachlässigung : Besonders von Freunden und Familie.
•Oberflächliche Interaktionen : „Likes“ und „Dislikes“ ersetzen tiefere Gespräche.
•Konflikte in Partnerschaften : Beispielsweise wegen „Phubbing“ – (Partner wird ignoriert, weil man aufs Handy schaut).
•Cybermobbing-Risiko : Sowohl als Opfer als auch als Täter.
•Gefährliche Challenges : In mehreren Ländern gab es Todesfälle durch riskante „TikTok-Challenges“ (beispielsweise die „Blackout-Challenge“, bei der bewusst Sauerstoffmangel herbeigeführt wird).
•Essstörungen: Algorithmisch verstärkte Inhalte zu „Thinspiration“ oder „Pro-Ana“ können anorektisches Verhalten auslösen oder verstärken.
Social-Media-Verbot: Schule, Kommune, Politik – was jetzt nötig ist
„Sinnvoll wäre ein besserer Jugendschutz – ähnlich dem beim Glücksspiel“, fordert Bach. Plattformen sollten verpflichtend Hinweise zur Nutzungsdauer geben, Pausen anstoßen und exzessive Nutzung beschränken; außerdem brauche es mehr Investitionen in Forschung, Aufklärung, Prävention und bessere Finanzierung von Beratungs‑ und Therapieangeboten.
Held wünscht sich: „Medienbildung endlich als verbindliches, bundesweit einheitliches Schulfach.“ Vor Ort helfe es, smartphonefreie Räume zu schaffen, analoge Inseln wie Freizeiten ohne Handy anzubieten und Präventions‑ sowie Fortbildungsangebote für Schulen und Multiplikatoren auszubauen.
Nach „Social-Media-Verbot unter 16“-Vorstoß von Özdemir: Zahlen, die einordnen
„Wir beobachten insgesamt sehr hohe Zahlen, insbesondere bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen“, berichtet Bach. Daten zeigten, „dass Kinder zwischen zehn und 17 Jahren täglich im Mittel zwei bis dreieinhalb Stunden soziale Medien nutzen“. Mehr als jedes vierte Kind zwischen zehn und 17 Jahren nutze Social Media „in problematischem Ausmaß“, knapp fünf Prozent zeigten „pathologische (krankhafte, Anm. der Red.) Nutzungsmuster“.
Auffällig sei: Jungen zeigen mit rund sechs Prozent fast doppelt so häufig pathologische Muster wie Mädchen, erklärt Bach. Regionale Unterschiede seien mangels Daten schwer zu beziffern, „aber städtische Gebiete mit hoher Smartphone‑Durchdringung zeigen tendenziell mehr Fälle problematischer Nutzung“.
Held hat zwei Kinder, 17 und 20 Jahre alt. Er sagt: „Mein Sohn hat mir letztes Jahr aus freien Stücken gesagt, dass er im Nachhinein sehr froh darüber ist, dass ich strenger war und immer über die Mediennutzung reden wollte, wenn er sich anschaut, welche Probleme Jugendliche aus seinem Bekanntenkreis mit ihrer Mediennutzung haben.“
Und Suchtforscher Patrick Bach vom ZI hingegen erzählt, er nutze privat gar kein Social Media.
- Hilfe für Eltern, Kinder und Jugendliche: https://medienbildung.majo.de/information-und-hilfe/
- Social Media Sucht-Schnelltest: Hier geht es zum Test (UKE Hamburg)
- Weiterer Selbsttest der Uni Heidelberg und PH Heidelberg
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[2] https://medienbildung.majo.de/information-und-hilfe/
[3] https://mediennutzungsvertrag.de/
[4] https://www.zi-mannheim.de/behandlung/klinik-sucht.html
[5] https://medienbildung.majo.de/information-und-hilfe/
[6] https://www.mediensuchthilfe.info/fragebogen-somedis-a/
[7] https://protect-mediensucht.de/selbsttest-jugendliche