Bundesverdienstkreuz

Auszeichnung für Gründerin von Mannheimer Straßenkinder-Projekt Freezone

Freezone ist eine Anlaufstelle für junge Menschen in Mannheim, die auf der Straße leben. Gründerin Andrea Schulz hat für ihr Engagement den Bundesverdienstorden bekommen. Im Interview gibt sie Einblicke in ihre Arbeit

Von 
Valerie Gerards
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Freezone ist für junge Menschen mit dem Lebensmittelpunkt Straße da. © Tröster

Freezone ist eine Anlaufstelle für junge Menschen, die auf der Straße leben oder ihren Lebensmittelpunkt auf die Straße verlegt haben. Dort bekommen Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene im Alter von 12 bis 25 Jahren Hilfe in Form eines Tages- und Übernachtungsangebots und mit der Mannheimer Straßenschule die Möglichkeit, Lernstoff zu erarbeiten, mit dem sie einen externen Schulabschluss innerhalb eines Jahres absolvieren können. All das ist ganz besonders Andrea Schulz zu verdanken. Sie hat das von kirchlichen Einrichtungen und der Arbeiterwohlfahrt gegründete Projekt mit entwickelt und aufgebaut. Am Samstag wird sie von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier mit dem Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland ausgezeichnet. Der Mannheimer Morgen hat mit ihr gesprochen.

Frau Schulz, hat sich die Situation in den vergangenen Jahren verändert?

Andrea Schulz: Corona hat einiges dazu beigetragen, dass viele junge Menschen psychisch angeschlagen oder krank sind und dass schmutzige Drogen (gestreckte chemische Drogen, THC, Chrystal Meth, Anm. d. Red.) an jeder Ecke zu bekommen sind. Wir brauchen jetzt länger, um Vertrauen aufzubauen. Die Beziehungsarbeit, mit der man wirklich etwas bewegt bei den jungen Menschen, braucht deutlich mehr Zeit. Verschärft hat sich auch, dass es viel zu wenig Zugänge zu adäquaten Hilfen gibt. Das Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim beispielsweise ist komplett überlaufen, wenn ein junger Mensch therapiebereit ist, können wir aber nicht noch sechs Monate warten. Auch die Zugänge zu ansässigen Therapeuten dauern einfach viel zu lange.

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Gibt es in der Gesellschaft durch die Häufung der Fälle mehr Verständnis für das Thema?

Schulz: Es gibt Verständnis für diese jungen Leute, aber dass es mehr geworden ist, würde ich nicht behaupten.

Wie groß sind die Erfolgsaussichten, die Kinder und Jugendlichen wieder in die Spur zu bringen?

Schulz: Die Erfolgsaussichten sind schon recht hoch. Es kommt dabei aber auch darauf an, ob es multiple Problemlagen sind, die erstmal abgearbeitet werden müssen. Die erste Voraussetzung ist die Bereitschaft, etwas verändern zu wollen. Auf diesen Punkt müssen wir einfach warten. Anders kommt man nicht an die Potenziale - denn so arbeiten wir. Wir sehen denn Menschen als gesamtes, er besteht nicht nur aus Problemen, sondern auch aus Potenzialen.

Wie sind ganz konkret die Zahlen für Mannheim?

Schulz: Es gibt keine konkreten Zahlen. Wir haben unser Programm vergrößert und machen sehr viel aufsuchende Arbeit, mit der wir frühzeitig an diese jungen Menschen kommen. Wir haben in Mannheim viele soziale Brennpunkte, wo zum Beispiel Armut Hunger produziert. Über das Gespräch beim Essen können wir schon eine vertrauensvolle Beziehung aufbauen, damit die jungen Menschen eine Anlaufstelle haben und Hilfe annehmen können, wenn es dann soweit kommt …

Sie sprechen von dem Projekt „Esspunkt“, mit dem Sie Kindern und Jugendlichen ein warmes Essen anbieten?

Schulz: Ganz genau. Damit können wir Minderjährigen, deren Lebensmittelpunkt die Straße ist, wunderbare Brücken schlagen. Wir bauen eine tragbare, vertrauensvolle Beziehung zu ihnen auf. Wenn was ist, erfahren wir das als erstes, können sie begleiten und mit ihnen zusammen eine Lösung finden.

Wie alt sind die Kinder und Jugendlichen, denen Sie helfen?

Schulz: Unsere Zielgruppe ist zwischen zwölf und 25 Jahren, am Esspunkt von zwölf bis 18 Jahren. Mein jüngster war acht. Je früher wir mit ihnen arbeiten, desto eher können wir einiges abwenden und eventuelle Straßenkarrieren vermeiden.

Gibt es so etwas wie die „typische Karriere“, um als Jugendlicher auf der Straße zu landen?

Schulz: Man spricht bei Straßenkarrieren von „Push- und Pull-Faktoren“. Wenn es zu Hause nicht klappt, aus welchen Gründen auch immer, drückt das den jungen Menschen auf die Straße. Und die Straße hat natürlich auch eine gewisse Faszination. Dort sucht man sich nämlich seine Wahlfamilie, die man zu Hause nicht erfährt. Zudem macht die Straße als Lebensmittelpunkt auch neugierig denn keiner sagt einem, wann man heimzukommen hat oder zu tun hat. Deshalb muss man versuchen, die Push-Faktoren zu Hause zu verändern.

Gibt es Frühwarnsignale?

Schulz: Wenn ein Kind die meiste Zeit des Tages oder Abends überhaupt nicht zu Hause ist, sollten bei den Eltern die Alarmglocken angehen. Wir haben aber auch Familien, in denen die Eltern selbst gar nicht da sind oder krank sind. Das Kind bekommt nicht das, was es braucht, sonst würde es nicht auf die Straße gehen. Wir sitzen dann auch in den Wohnzimmern, reden mit den Kindern und deren Eltern und versuchen durch Vereinbarungen untereinander, eine Straßenkarriere zu vermeiden.

Woher bekommen Sie die Gelder für Freezone? Wie schwierig ist es, das Projekt finanziell am Laufen zu halten?

Schulz: Ich habe 1997 mit Geldern der katholischen und evangelischen Kirche begonnen, weil die Stadt Mannheim gesagt hat, sie brauche das Projekt nicht. Wir sind in der Pilotphase wissenschaftlich begleitet worden, die Stadt hat dabei den Bedarf erkannt und uns mit 250 000 Mark im Jahr unterstützt. Ab 2004 aber wurden dann nicht mehr junge Menschen von 12 bis 21 Jahren vom Jugendamt pauschal bezuschusst, sondern mit 18 Jahren war Schluss. Der Zuschuss wurde leider um die Hälfte gekürzt. Wir bekommen jetzt knapp 85 000 Euro im Jahr von der Stadt und 11 000 pro Jahr und eine Vollzeitstelle vom Land Baden-Württemberg für Aufsuchende Arbeit in sozialen Brennpunkten. Die zusätzlichen Finanzmittel in Höhe von etwa 140 000 Euro müssen wir in Form von Spenden aufbringen.

Klare Kritik an der Stadt Mannheim.

Schulz: Ich finde das sehr schade. Kritik in dem Sinne, dass sie sich aus der Pauschalfinanzierung für junge Volljährige zurückgezogen haben. Denn der Übergang von der Minderjährigkeit zur Volljährigkeit ist eine ganz besondere schwierige Zeit. Die jungen Menschen, die gerade volljährig geworden sind, brauchen aufgrund ihrer Biografien viel mehr Unterstützung und Begleitung in ihren besonderen Lebenslagen. Man kann nicht sagen, „jetzt bist du 18, mach mal selber“.

Was wünschen Sie sich von der Politik?

Schulz: Ich wünsche mir mehr Unterstützung und mehr Manpower für unsere Arbeit mit den jungen Volljährigen. Darüber würde ich mich außerordentlich freuen. Darf ich mich an dieser Stelle auch bedanken? Ich möchte mich gerne bei allen Mannheimer Bürgerinnen und Bürgern, Spendern, Sponsoren und langjährigen Unterstützern aus der Metropolregion Rhein-Neckar ganz herzlich bedanken. Diese immense Unterstützung ist der Grund, warum es Freezone und deren Angebote noch gibt.

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier verleiht Andrea Schulz den Verdienstorden im Schloss Bellevue. © Presse- und Informationsamt de

Freie Autorin

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