Geistliches Wort

Auf das Wunder warten

Von 
Margit Fleckenstein
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Ein Kind fragt: „Ist der liebe Gott auch auf dem Weihnachtsmarkt?“ Was soll man antworten? Dass der liebe Gott überall ist? Und dann sieht man die gewaltigen Betonblöcke, die den Weihnachtsmarkt vor terroristischen Anschlägen schützen. Braucht der liebe Gott diesen Schutz? Brauchen wir diesen Schutz, wenn doch der liebe Gott da ist? Ja, Gott ist da, und er fehlt.

In welch einer Welt leben wir in dieser Zeit? Wir erleben eine unfassbare Steigerung von Gewalt, Hass, Rassismus, Antisemitismus, Feindseligkeit, Angst und Misstrauen. Die Adventszeit ist im Kirchenjahr eine Bußzeit. Sie kann uns einen Perspektivenwechsel vom unbeteiligten Zuschauer zum Mitbetroffenen nahelegen. Mitmenschlichkeit, Barmherzigkeit, Einfühlung, Fürsorge sind nötig. An all dem Bösen, das passiert, sind nicht nur diejenigen schuld, die es tun, sondern auch die, die es nicht verhindern.

Jeden Tag ein Geheimnis

Haben Sie, liebe Leser und Leserinnen, einen Adventskalender, der Sie beim Warten auf Weihnachten begleitet, indem sie ab dem 1. Dezember täglich ein Türchen öffnen dürfen? Der Kalender zeigt uns: Das Besondere der Zeit im Advent besteht darin, dass jeder Tag sein eigenes Geheimnis hat; ein kleines Wunder, eine besondere Freude sind darin versteckt. Diese Kleinigkeiten werden im Strudel des Alltags oft übersehen. Es sind kleine Überraschungsmomente, die sich aus der grauen Routine abheben und unser Leben zum Leuchten bringen.

Der Adventskalender will uns auch das geduldige Warten lehren. In einem der vergangenen Jahre las ich in meinem Adventskalender den Vorschlag, sich in dieser Zeit vor ein großes, vierstöckiges Wohnhaus zu stellen und zu warten, bis elf Fenster erleuchtet sind. Mit diesem Vorschlag konnte ich gar nichts anfangen. Um zu begreifen, was Warten bedeuten kann, oder zu erfahren, wie die Zeit langsam vergeht, kann ich mich zu Hause auch in meinen Sessel setzen und beschließen, einige Zeit gar nichts zu tun.

Das Kalenderblatt hat mich aber nicht losgelassen. Ich habe es seither im Hinterkopf mit mir herumgetragen. Und dann habe ich den Vorschlag auf dem Adventskalenderblatt begriffen. Wenn ich in meinem Sessel die Erfahrung des Wartens machen will, bestimme ich für mich, wie lange ich warten will. Wenn ich mich aber vor ein fremdes Haus stelle, weiß ich nicht, wie lange ich warten muss, bis elf Fenster erleuchtet sind. Es kann sehr schnell gehen, es kann aber auch sehr lange dauern, und vielleicht werden an einem Abend weniger als elf Fenster erleuchtet.

Vertrauen bedarf starkes Herz

Die Kunst ist, auf das uns unverbrüchlich zugesagte Wunder Gottes zu warten, ohne zu wissen, wie lange es noch dauert. Die Vollendung des Gottesreichs, der neue Himmel und die neue Erde, „die Welt ohne Leid, wo Gewalttat und Elend besiegt sind“ (Kurt Marti), werden kommen. Doch niemand von uns kann nach 2000 Jahren Wartezeit sagen, ob erst ein Fenster erleuchtet ist oder ob es schon zehn Fenster sind. Um dies gegen alle Gottvergessenheit in dieser Zeit auszuhalten, also stark genug zu sein, weiter voller Vertrauen zu warten, braucht es ein festes Herz. Der Adventskalender lässt uns begreifen, dass unsere Zeit voranschreitet einem guten Ziel entgegen, zu dem sich die letzte Tür dann von selbst öffnen wird.

Justizrätin Margit Fleckenstein, Synodalpräsidentin a.D.

Freie Autorin

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