"Augenzeugen gesucht", heißt es in dem Aushang, auf den ich mich gemeldet habe. Nacheinander werden mir verschiedene Gesichter gezeigt, aus denen ich die Täter ermitteln soll. Keine leichte Aufgabe, denn die Personen sehen sich sehr ähnlich. "Überlegen Sie sorgfältig, sonst schicken Sie womöglich einen unschuldigen Menschen ins Gefängnis", werde ich immer wieder ermahnt. Was wie ein Krimi klingt, ist zum Glück nur ein Laborexperiment an der Uni Mannheim.
Der Versuchsleiter heißt Daniel Megally und studiert Psychologie. In seiner Masterarbeit möchte der 31-Jährige herausfinden, wie zuverlässig Zeugen mit ihrer Aussage sind und wie sie selbst die Richtigkeit ihres Urteils einschätzen. Für die Aussagekräftigkeit seines Experiments braucht der Psychologiestudent mindestens 60 Personen, besser wären 100. Doch so viele Freiwillige zu finden, ist nicht immer leicht.
Gegenseitige Unterstützung
"Früher sind die Versuchsleiter noch durch die Vorlesungen gelaufen, um Teilnehmer für ihre Studien zu rekrutieren", sagt Megally. "Das geht mittlerweile nicht mehr, weil es auf Dauer einfach zu sehr gestört hat." Stattdessen suchen die Studierenden ihre Versuchspersonen nun über Facebook, öffentliche Aushänge, Mail-Verteiler oder über das Sona-System, die uniinterne Übersichtsplattform im Internet, auf der aktuelle Studien gelistet werden. Als besonderen Anreiz gibt es an der Uni Mannheim, sowie an anderen Hochschulen, sogenannte Versuchspersonenstunden (VPN-Stunden).
Das bedeutet, dass Studierende für die Teilnahme an einer Studie Punkte sammeln, die dann als Teil ihrer Prüfungsleistung angerechnet werden. "Schon zu meiner Studienzeit in den 1970ern mussten wir die Versuchspersonenstunden erbringen", sagt Rüdiger Pohl vom Prüfungsausschuss Psychologie. "Viele Studierende müssen selber Experimente planen und durchführen. Da sie kein Geld haben, um Teilnehmer zu bezahlen und es zudem wünschenswert ist, dass sie selbst Erfahrungen als Versuchspersonen sammeln, gibt es die VPN-Stunden."
Betroffen sind an der Uni Mannheim die Studiengänge Soziologie, Psychologie und Lehramt. Um ihr Abschlusszeugnis zu erhalten, müssen die Studierenden meist 30 Punkte sammeln. Die Anzahl der Punkte pro Studie ist abhängig von dem Aufwandsumfang, in der Regel gibt es jedoch einen Punkt. Trotz der VPN-Stunden muss man als Versuchsleiter mitunter kreativ werden, um genügend Teilnehmer zu finden.
In Aushängen an der Uni locken sie ihre Mitstudierenden mit Muffins, Gutscheinen oder kleinen Geldbeträgen. Doch was viele nicht wissen: Um Ungleichheiten zwischen den einzelnen Lehrstühlen zu vermeiden, bekommen die Versuchsleiter von der Uni kein Budget für ihre Studien, sondern müssen selbst für alle Unkosten aufkommen.
Ob man ausreichend Teilnehmer findet, hängt dabei auch von Zeitpunkt, Inhalt und der Komplexität des Experiments ab, von der Lage des zugeteilten Raums oder davon, wie viele Leute man an der Uni kennt. Auch Jonas Johé weiß um diese Problematik.
Der 31-jährige BWL-Student hat von 2012 bis 2015 an der Mannheimer Uni studiert und bei seiner Masterarbeit ebenfalls nach Studienteilnehmern gesucht. "Mir ist immer wieder aufgefallen, dass viele Studierende aktiv angeboten haben, an Studien anderer Personen teilzunehmen", sagt Johé "Im Gegenzug haben sie dann natürlich erwartet, dass sich der Studienleiter revanchiert und auch an ihrer Studie teilnimmt."
Für alle offen
Inspiriert von dieser Beobachtung hat Johé das Internetportal "SurveyCircle" gegründet. Damit möchte er Studierenden, Doktoranden und anderen Online-Forschern eine Infrastruktur zur gegenseitigen Unterstützung bieten. Und das funktioniert nach einem einfachen Prinzip: Für jede Studie, an der man als angemeldeter Nutzer teilnimmt, bekommt man Punkte.
Je mehr Punkte man sammelt, desto höher steigt die eigene Studie im Ranking der Plattform und desto mehr Punkte können andere Nutzer bekommen, wenn sie an dieser Studie teilnehmen. Das Punktesystem ist aber nicht nur auf Studierende begrenzt: "Durch SurveyCircle erhalten endlich auch Menschen außerhalb von Unis und Hochschulen einen Zugang zu aktueller Forschung. Jeder kann mitmachen und echte Forschungsprojekte miterleben", sagt Johé.
Versuchsleiter Daniel Megally bleibt trotzdem bei seinem Uni-Aushang: "Webseiten, die Versuchspersonen vermitteln, sind bei Online-Umfragen sehr hilfreich. Bei Laborexperimenten brauche ich aber die Personen vor Ort." Mittlerweile hat der Psychologiestudent 111 Augenzeugen gefunden und beginnt nun mit der Auswertung der Datensätze.
Anreize zum Mitmachen
- Da Studierende an vielen deutschen Universitäten und Hochschulen selbst Experimente durchführen müssen, gibt es sogenannte Versuchspersonenstunden (VPN-Stunden) als Anreiz zur Teilnahme.
- Die VPN-Stunden sind als fester Teil der Prüfungsleistung in der Studienordnung integriert und Voraussetzung für das Abschlusszeugnis.
- An der Mannheimer Universität sind die Studiengänge Psychologie, Soziologie und Lehramt von den VPN-Stunden betroffen.
- Insgesamt müssen die Studierenden meist 30 VPN-Stunden erbringen. Für eine Studie erhält man im Durchschnitt einen Punkt.
- Studierende, die keine VPN-Stunden sammeln müssen, werden durch Geldbeträge oder Süßigkeiten zur Teilnahme motiviert. las
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