Stadtgeschichte

So lebten und arbeiteten die Menschen in der Jute-Industrie in Mannheim

Wie viel Kälte die Industrialisierung den Menschen vor 100 Jahren brachte, lässt sich heute nur noch erahnen. Über Zeugen der Industrialisierung in Mannheim-Sandhofen kann man sich der damaligen Zeit annähern

Von 
Johannes Paesler
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. . . und heute. © Rhein-Neckar-Industriekultur / Johannes Paesler

Mannheim. Das Märchen von Hans Christian Andersen geht tragisch aus. „Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern“ kann sich aus seiner Armut nicht befreien, sondern stirbt an der Kälte, die es umgibt. Wie viel Kälte die Industrialisierung den Menschen vor 100 bis 150 Jahren brachte, lässt sich heute nur noch erahnen. Es gibt aber viele Zeugen der Industrialisierung in Mannheim, über die man sich der damaligen Zeit immerhin annähern kann.

Da sind etwa Straßennamen, nehmen wir die Leinenstraße in Sandhofen, die mal Hessische Straße hieß. Wo kommt das Leinen im Namen her? Eigentlich ganz einfach. Es erinnert an die Süddeutsche Juteindustrie, die seit 1898 ihren Sitz in Sandhofen hatte.

Jutekolonie in Mannheim hatte einen schlechten Ruf

Noch sprechender sind die Namen einiger Gässchen in unmittelbarer Nähe: Juteweg, Fadenweg, Faserweg, Webereistraße, Spindelweg. So richtig spannend wird es mit der Erkenntnis, dass es diese Namen erst seit knapp 60 Jahren gibt. Erst am 30. September 1966 beschloss der Mannheimer Gemeinderat die neuen Namen, vorher trugen diese Gassen keine. Es handelt sich um die Jutekolonie, in der ursprünglich die Häuser einfach durchnummeriert waren.

Das Mädchenwohnheim damals (um 1912) . . . © Rhein-Neckar-Industriekultur / Johannes Paesler

Bis in die zweite Hälfte des letzten Jahrhunderts hinein hatte die Siedlung einen schlechten Ruf, ein anständiger Sandhöfer ging dort nicht hin. Das lag an den Bewohnern ausländischer Herkunft. Wieder spürt man etwas von der Kälte, die aus vergangenen Zeiten herüberweht.

Sieben Siedlungen im Norden

Dabei waren Industrielle um 1900 durchaus am Ergehen ihrer Arbeitstätigen interessiert; es wäre zu kurz gegriffen, ihnen pauschal soziale Verantwortungslosigkeit vorzuwerfen. Allein im Mannheimer Norden bestehen bis heute sieben ehemalige Arbeitersiedlungen, die im Zuge der Neugründung oder des Umzugs einer Fabrik entstanden. Die bekannteste ist die Spiegelsiedlung auf dem Luzenberg, in der der spätere Bundestrainer Seppl Herberger geboren wurde.

Zu nennen wäre ferner die Bopp&Reuther-Siedlung. Die Fabrik hatte ihren Ursprung 1872 in der Neckarstadt West, wo es dem aufstrebenden Betrieb bald zu eng wurde. 1897 zog Bopp&Reuther auf den Waldhof um und errichtete zeitgleich mehrere Wohnblocks für seine Beschäftigten, die teilweise eine bessere Ausstattung boten als manche Wohnungen der Innenstadt.

Weniger bekannt ist die Gaswerksiedlung am Nordrand der Neckarstadt. Dort wohnten Mitarbeiter des Gaswerks Luzenberg, das für die Energieversorgung der Stadt zuständig war. Die Wohnblocks waren erforderlich, damit im Falle einer Störung Angestellte und Arbeiter schnell vor Ort sein konnten. Ähnlich unbekannt dürfte ein Gebäudeensemble sein, das als Draissiedlung errichtet wurde. Die Draiswerke wurden nicht etwa von dem berühmten Erfinder des Zweirads gegründet, sondern 1896 von Industriellen Mannheims im Andenken an Carl Friedrich Freiherr von Drais.

Am Altrhein siedelte sich 1884 die Zellstofffabrik Waldhof an (heute Essity), die Papyrus AG gründete sich südlich des Dorfes Sandhofen 1907 (von der Zellstoff 1931 übernommen). Beide Fabriken errichteten Siedlungen für ihre Arbeitstätigen. Besucht man diese Siedlungen heute, staunt man durchaus über die Kreuzhäuser (einzelstehende Häuser mit vier Wohnparteien) und Wohnblocks. Es gab Zwei- und Dreizimmerwohnungen, die größten mit 75 Quadratmetern Wohnfläche. Im direkten Umfeld eines jeden Hauses oder Wohnblocks waren ein Garten und ein Stall für Kleintierhaltung in der damaligen Zeit praktisch Standard. Dadurch war es den Werktätigen möglich, intensiv zur Eigenversorgung beizutragen.

Schlechte Arbeitsbedingungen

Die Industriellen um 1900 waren also nicht einfach die herzlosen Ausbeuter, als die sie auch Darstellung gefunden haben. Dennoch lässt sich der Blick vor den Zuständen in den damaligen Produktionsstätten nicht verschließen. Die Arbeitsbedingungen in der Jutefabrik waren teilweise menschenunwürdig. Darüber informierte ein Vortragsabend, der vom Heimatmuseum Sandhofen kürzlich veranstaltet wurde. Vorsitzende Helga Weber hatte Barbara Ritter von Rhein-Neckar-Industriekultur und Dr. Anja Gillen vom Marchivum als Referentinnen eingeladen. An dem Abend war der Gemeindesaal St. Bartholomäus bis zum letzten Platz gefüllt.

Jute war damals wie heute Plastik

Jute wurde um 1900 benötigt wie heute Plastik; damals packte man praktisch alles in Jutesäcke ein. Reiche Mannheimer investierten, die Fabrik wurde innerhalb kürzester Zeit hochgezogen. In den folgenden Jahrzehnten fanden wiederholt Streiks statt. Es gibt Hinweise, dass bei mindestens einem der Streiks die gesamte Belegschaft brutal gefeuert wurde - um sie hernach zu schlechteren Bedingungen wiedereinzustellen. Verlässliche Quellen berichten, dass selbst in solchen Zeiten zuverlässig Dividenden an die Teilhaber der Fabrik ausbezahlt wurden. Arbeitskräfte wurden angeworben in Italien, Polen, Tschechien und Ungarn.

Darunter waren weit mehr Frauen als Männer, auf Fotos ist zu erkennen, dass sich viele minderjährige Mädchen unter ihnen befanden. Die kamen im Mädchenwohnheim unter, wo sie keine Privatsphäre hatten. Sie waren katholisch geprägt, was die katholische Kirche auf den Plan rief, die sich „kümmerte“ - was wohl eher eine Überwachung darstellte.

Fabrikarbeit von Minderjährigen

Die Geschichte der Jutefabrik ist also verknüpft mit Fabrikarbeit von Minderjährigen, die durch religiösen Einfluss abhängig gehalten wurden. Sie hantierte mit Menschen unterschiedlicher ausländischer Herkunft, die aktiv ins Land gelockt wurden. Wie zum Hohn wurde das Viertel, in das sie einquartiert waren, von den Alteingesessenen zur No-go-Area erklärt.

Im Mannheimer Norden gab es kein Mädchen mit Schwefelhölzern, das in der Kälte erfror. Aber hier lebten viele Mädchen (und Erwachsene), die die Kälte und Härte der Industriellen Revolution mit voller Wucht erleiden mussten. Selbst dann noch, als reiche Mannheimer Industrielle noch zuverlässig den Gewinn aus ihren Anteilen an der Jutefabrik ausgezahlt bekamen.

Heute wohnen in der Jutesiedlung Mannheimer Bürger. Die Ruinen der damaligen Fabrik dämmern auf dem Gelände der Essity vor sich hin und verfallen zusehends. Wenn sich schon niemand um den Erhalt der steinernen Zeitzeugen kümmert, wen bekümmert dann schon das harte Leben Hunderter von Menschen vor rund 100 Jahren, die den Wohlstand angesehener Bürger nährten.

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