Mannheim. „Ich wollte mal in einen Theaterabend gehen, weil ich gehört hatte, dass die da Schnittchen verteilen“, berichtet Franz Beil. „Und ich wusste, dass ich da ganz billig reinkomme. Und dann saß ich da drin und da wurden aber überhaupt keine Schnittchen verteilt.“ Skandal, Theaterskandal!, möchte man anteilnehmend rufen. Hier, beim Gastspiel der Berliner Volksbühne im Ludwigshafener Theater im Pfalzbau, werden indes tatsächlich Schnittchen geschmiert.
Schauspiel in einer anderen Dimension im Pfalzbau
Wenngleich man froh ist, selbige nicht serviert zu bekommen – schließlich bestreicht das Ensemble sie derart dick mit Butter, dass einem allein von Zuschauen ganz blümerant zumute wird. Für die Inszenierung von René Polleschs „Der Schnittchenkauf“ gilt das genaue Gegenteil, auch dann, wenn einem hier – um im Bild zu bleiben – Schauspiel und Theatertheorie in Form- und Format-sprengenden Dimensionen gereicht werden.
Hommage an den Postdramatiker in Ludwigshafen
Im Februar vergangenen Jahres ist Pollesch, der große Dramatiker, Regisseur und Intendant der Berliner Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, unvermittelt verstorben. Postum hat sein Ensemble den „Schnittchenkauf“ zur Uraufführung gebracht, ein Stück, das auf Polleschs gleichnamiger Textsammlung aus den Jahren 2011 und 2012 basiert, worin er sich an Bertolt Brechts unvollendet gebliebenem theoretischen Werk „Der Messingkauf“ abgearbeitet hatte, in welchem Brecht wiederum über „eine neue Art, Theater zu spielen“ reflektierte.
Eine neue Art, Theater zu spielen
Ein ureigenes Pollesch-Thema ist die integrale Bedeutung des Bühnenbilds, das hier, sehr schön und anmutig, von Leonard Neumann eingerichtet worden ist. Dabei hat er die Vorbühne durch eine hölzerne Konstruktion erweitert, die eine Art japanisches Teehaus beherbergt, in dessen Hintergrund eine pittoreske, gemalte Fluss- und Berglandschaft prangt.
Auf zwei Projektionsflächen, eine große oberhalb des Bühnenaufbaus, ein Fernsehschirm in der linksseitigen Wohn- und Medienecke, werden allenthalben Live-Kamerabilder übertragen. Die Hinterbühne wird später geöffnet und mit bespielt, wodurch ein weiter Raum erschlossen wird, in dem das Ensemble etwa auch seine muntere Fahrrad- und Moped-Runden drehen kann.
Die Spielerinnen und Spieler - Kathrin Angerer, Rosa Lembeck, Milan Peschel, Martin Wuttke – tragen anfänglich Safari-artige, von Tabea Braun entworfene Kostüme , samt Tropenhelm, Fremdenlegionärs kappe oder Wildkatzen-Muster-Print. Wobei Beil in das vermutlich possierliche Rattenkostüm gesteckt wurde, das je eine Theaterschneiderei verlassen hat.
Eingefasst in wunderbar synkopische Pollesch-Sätze (Lembeck: „An eurem Theater interessiert mich, dass es sein könnte, das wir nicht lieben können, wenn wir sprechen“; Wuttke: „Die Ähnlichkeit unserer Körper bildet ja keine Grundlage für eine gelungene Konversation“), verschachtelte Dispute, Dialoge und intermittierende szenische Überlegungen wird hier en gros über das Theater nachgedacht: Es geht um die Vierte-Wand-Werdung aus dem Unmut eines Regisseurs, um den „anthropologischen Schnitt“, der den Menschen vom Tier trennt und um die Selbstbeobachtung verzogener Strumpfnähte.
Die großen Themen
Es geht um das Schleimpilz-Sein des Ichs, um Aristoteles und das Nicht-Sein der Tragödie und um die unverständliche „Verachtung für das Benutzbare“ (beispielsweise der Bühnentür). Kurzum: „Die großen Themen“, wie Angerer sagt.
Wollte man zusammenfassen, was in diesen zwei Stunden auf der Bühne und mit einem selbst als Zuschauer passiert, dann vielleicht so: Dieser Abend fühlt sich wie die Suche nach einer Weltformel der darstellenden Kunst an, nach einer ultimativen Theorie von Allem, was Theater bedeutet.
Was es soll, was es war und sein könnte, warum, mit wem und für wen man das überhaupt macht und wie man sich dabei miteinander verbindet. Zugleich, bei allem vogelwild umher strudelnden didaktischen Überbau: Selten (wann überhaupt?) hat man so lustvolles – und lustiges - Schauspiel gesehen, getragen, verwirbelt, zerknüllt und grandios dargeboten von einem exzeptionellen Ensemble.
Filmische Dynamik im Pfalzbau Ludwigshafen
Die Live-Kamera ist dabei keine bloße theatrale Spielerei, sondern wird von Jan Speckenbach so geschickt und mit schnellen Fokuswechseln geführt, dass eine nachgerade filmische Dynamik entsteht. Zur (melo)dramatischen Breitwandwirkung mancher Szenen tragen zudem die Ennio-Morricone-Musikeinspielungen oder epische „Out of Africa“-Soundtrack-Panoramen bei.
„Der Schnittchenkauf“ ist, um eine Einlassung Wuttkes zu variieren, wie ein Theater am Ende der Zeit. Alles endet hier, und alles, was jetzt kommt, müsste wie ein völliger Neuanfang sein. Ein schöneres Vermächtnis kann man sich eigentlich nicht wünschen.
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