Ludwigshafen. Am 21. September 1921 ist der 16-jährige Willi Portune mit seinem Freund Paul Müller auf dem Weg zur Arbeit im BASF-Stickstoffwerk in Oppau, als es um 7.32 Uhr passiert: Mit ungeheurer Wucht explodiert ein mit 4500 Tonnen Kunstdünger gefülltes Silo auf dem Gelände, der Knall ist noch in Zürich und München zu hören. Willi und Paul sterben noch vor dem Werkstor – sie gehören zu den 561 Toten des größten Unglücks der deutschen Chemie. „Wahrscheinlich ist mein Sohn dem ungeheuren Luftdruck erlegen“, wird Willis Vater Heinrich später sagen. Fast 2000 Menschen werden an diesem Mittwoch verletzt, viele schwer. Die Explosion reißt einen 165 Meter langen, 96 Meter breiten und 18,5 Meter tiefen Krater, im Umkreis bis zu 80 Kilometer gibt es verheerende Schäden: Dächer werden abgedeckt, Fenster eingedrückt, noch in Worms und Heidelberg entstehen Risse an Gebäuden, und in Frankfurt bersten Scheiben.
Am härtesten trifft es das wenige hundert Meter entfernte Oppau. „In Oppau, kann man sagen, war mehr oder weniger jede Familie betroffen – teils durch den Verlust von Angehörigen oder durch Verletzte“, sagt Udo Scheuermann vom Oppauer Verein zur Förderung des Karl-Otto-Braun-Museums. Laut einer vom Verein herausgegebenen Stadtteilgeschichte werden 80 Prozent der Wohnungen im Ort zerstört, der Rest beschädigt. Am kommenden Dienstag jährt sich die Katastrophe, über deren Ursache noch diskutiert wird, zum 100. Mal. Dann werden die Spitzen von Stadt und Unternehmen auf dem Ludwigshafener Hauptfriedhof und auf den Friedhöfen in Oppau und Edigheim der Toten gedenken.
Augenzeugen berichten 1921 von einer gewaltigen Explosion, der „ein blitzartiger Feuerstrahl“ mit Rauchwolke vorausging. „Als es wieder hell wurde, bot sich meinen Augen ein furchtbares Leid“, so der Schüler Karl Beck, den die Historikerin Lisa Sanner in ihrem Buch „Als wäre das Ende der Welt da“ zitiert. Von den Menschen im Silo überlebt keiner. „Die Arbeiter, die sich retten konnten, eilten aus den Fabrikgebäuden ins Freie und viele wurden hier durch einstürzende Gebäude getötet“, so der Sonderberichterstatter der „Frankfurter Zeitung“, der wie Heinrich Portune in der Stadtteilgeschichte zu Wort kommt. Ein Großteil der Opfer wird auf dem Weg zur Arbeit überrascht, Verletzte irren in den Trümmern umher. Viele Menschen, auch die französischen Besatzer, helfen, aber es gibt auch viele Gaffer, die die Arbeiten behindern.
Produktionsverfahren des Mischdüngers wird geändert
In dem Silo lagerte Ammonsulfatsalpeter, ein Stickstoffdünger aus Ammoniumsulfat und Ammoniumnitrat. Letzteres ist laut BASF unter bestimmten Bedingungen explosionsfähig. Im 1913 eröffneten Werk in Oppau steht die erste Anlage zur Synthese von Ammoniak, das für Kunstdünger verwendet wird, im Weltkrieg wurde daraus auch Salpetersäure für Sprengstoff. Nach dem Krieg wird viel Dünger produziert. Die „Saisonware“ wird in großen Silos gelagert und backt fest zusammen, 1920 wird das Verfahren der Zerkleinerung laut Sanner wegen der großen Mengen von „Pickel und Haue“ auf Sprengungen umgestellt.
Die gelten damals als unproblematisch, wenn das Verhältnis von Ammoniumsulfat und Ammoniumnitrat eins zu eins beträgt. Bis zur Explosion hat es 20 000 solcher Sprengungen gegeben. Anfang 1921 wird jedoch das Produktionsverfahren des Mischdüngers geändert. Er wird laut BASF nicht mehr in einer „Schneckenapparatur“ abgekühlt, sondern in Düsen mit Druckluft zerstäubt und in das Silo gespritzt. Der Umstieg auf das „Sprühtrocknungsverfahren“ ist laut der BASF aus heutiger Sicht eines der „wesentlichen Elemente der Unglücksursache“. Dadurch hätten sich physikalische Eigenschaften des Düngers geändert, und es sei möglich geworden, dass er explodiert. Auch habe sich an einigen Stellen im Silo schneeartiges Pulver mit deutlich erhöhtem Nitratanteil abgesetzt. Bei einer Lockerungssprengung sei es wahrscheinlich explodiert und zur „Initialzündung“ geworden.
„Nach damaligem Kenntnisstand ging man jedoch nicht davon aus, dass beide Fraktionen eine unterschiedliche chemische Zusammensetzung hatten und damit anders auf die Lockerungssprengungen reagieren würden“, so die BASF. Sie weist den aktuellen Vorwurf von Bürgern zurück, Verantwortliche hätten fahrlässig gehandelt. Fahrlässigkeit bestreitet die BASF-Spitze von Anfang an, schreibt Jeffrey Allan Johnson in „Die BASF – Eine Unternehmensgeschichte“ – sie übernimmt auch nicht die juristische Verantwortung für die Schäden. Staatliche Untersuchungskommissionen können die Ursache nicht endgültig klären – und finden keinen Hinweis für die Vermutung, es gebe einen Zusammenhang zwischen der Akkord- und Prämienarbeit und der Katastrophe. 1923 spricht das Landgericht Frankenthal drei leitende Direktoren vom Vorwurf der fahrlässigen Tötung frei, da ein Verschulden erst festgestellt werden könne, wenn die Ursache geklärt sei. „Da dies nie gelang, blieben sämtliche Bemühungen einer Haftbarmachung der BASF erfolglos“, so Sanner.
1000 neue Häuser werden gebaut
Die Konflikte sind damit nicht vorbei. Zwar kommt die BASF laut dem Ludwigshafener Stadtarchiv-Chef Stefan Mörz faktisch für fast alles auf – so wie es Vorstandschef Carl Bosch unter Tränen versprochen hat. „Aber sie hat es eben nicht im Rahmen einer großzügigen und schnellen Geste gemacht, sondern sehr zäh, sie musste sich immer wieder bitten lassen“, so Mörz, dem zufolge die Bewältigung der Katastrophe nicht nur als Erfolg, sondern auch als „Serie von versäumten Chancen“ gesehen werden kann. Die Entschädigten leiden zudem unter der Geldentwertung, es muss nachgebessert werden. Mit 16 Millionen Goldmark finanziert die BASF den Löwenanteil des Wiederaufbaus. Das Werk produziert nach drei Monaten wieder, wiederhergestellt ist es wie Oppau etwa 1925.
Mehr als 1600 Häuser werden repariert, 1000 neu gebaut. Wo die in Werksnähe stehenden Häuser weggerissen wurden, lässt man einen Streifen, einen „Cordon sanitaire“, wie Mörz sagt. Oppau, dessen Einnahmen zu 95 Prozent von der BASF stammen, wird wieder reich, gemeindet Edigheim ein und wird 1929 Stadt – bis es im NS-Staat Ludwigshafen zugeschlagen wird.
Heute sei die Explosion noch immer stark in den Gedanken der Bevölkerung verankert, sagt der Fördervereinsvorsitzende Scheuermann, der lange Ortsvorsteher war. Als es 2014 bei Arbeiten an einer Gaspipeline in Edigheim zu einer Explosion kam und ein riesiger Krater entstand, hat er öfter gehört: „Ach Gott, wenn ich das sehe, das ist ja wie ‘21.“ Derzeit erinnert sein Verein mit einer Ausstellung im Rathaus an die Katastrophe. Man wolle ins Gedächtnis rufen, dass es in einer Zeit, in der es chemische Industrie gebe, auch Risiken gebe.
Es sei „gut und wichtig“, dass Stadt und BASF die Erinnerung wachhielten und der Opfer gedächten, „denn jedes einzelne Schicksal soll unvergessen bleiben und ist Teil unserer Geschichte“, so Bürgermeisterin Cornelia Reifenberg (CDU). BASF-Standortleiterin Melanie Maas-Brunner sagt, die Katastrophe bleibe „in vielerlei Hinsicht unfassbar“. Sicherheit habe für BASF höchste Priorität. „Wenn dennoch etwas passiert, ist es wichtig, Fehler aufzuarbeiten und aus ihnen zu lernen, damit wir sie in der Zukunft vermeiden können.“
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