Das Buch mit den krakeligen Unterschriften wird vom Hotel Viktoria übrig bleiben. Dafür sorgt Renate Auer. Es ist ein Andenken an die 85 Jahre lange Hoteliertradition ihrer Familie. In dem Buch haben sich Berühmtheiten wie der damalige Regierende Bürgermeister von Berlin und spätere Bundeskanzler Willy Brandt, die Schauspielerin Hannelore Elsner und Volksmusiker Heino verewigt. "Wir waren ja sehr lange das einzige Hotel in der Stadt", sagt Auer und fügt gleich hinzu: "Das sind ganz bodenständige, angenehme Menschen gewesen."
Auer ist in dem Hotel an der Bahnhofstraße aufgewachsen, hat 1986 die Geschäftsführung von ihrer Mutter übernommen und wickelt das Hotel jetzt ab. "Diese Entscheidung haben wir uns fünf Jahre lang überlegt", sagt Auers Bruder Herbert Morschheuser, der Mitinhaber ist. Doch wirklich wehmütig sind die beiden nicht. "Wir haben jetzt so lange darüber nachgedacht, da kommt keine Traurigkeit mehr auf." Schmerzlicher sei der Abschied für die 101 Jahre alte Mutter, die das Hotel jahrzehntelang geführt habe. "Sie hängt an dem Haus", sagt Auer.
Beim Aufräumen stoßen die Geschwister immer wieder auf alte Unterlagen sowie Fotos - und schwelgen dann in Erinnerungen. "Das ist ein Familienbetrieb gewesen, wo jeder angepackt hat", sagt Morschheuser. Wenn etwa Angestellte krank waren, dann sprangen die Kinder schon einmal ein. "Als Student habe ich auch als Nachtportier gearbeitet und mit Norbert Blüm über die Weltpolitik diskutiert", sagt Morschheuser. Der CDU-Politiker und spätere Bundesarbeitsminister hatte sich hier 1972 als Bundestagskandidat beworben. "Damals kannte den noch keiner."
Für Morschheuser kam der Einstieg in den Familienbetrieb nach dem Studium der Betriebswirtschaftslehre in Mannheim nicht infrage. Er entschied sich für eine Karriere beim Autobauer Audi in Neckarsulm. Seine Schwester blieb im Hotel und half der Mutter.
Möbel verkauft
In den vergangenen Tagen haben die Geschwister schon einen Großteil des alten Mobiliars verkauft, das aus den 1950ern und 1960ern stammt. "Die Vasen mit Viktoria-Schriftzug haben wir als Erinnerung aber behalten", sagt Auer und sortiert auf dem Tisch vor sich altes Geschirr, das sie nicht mehr verkaufen konnte. In den Gängen des vierstöckigen Gebäudes stehen nur noch kaputte Kommoden, Stühle und Tische, die die Hoteliers entsorgen.
Am 15. Mai übergeben die Geschwister das Gebäude an den neuen Eigentümer, die Wiesbadener Hotelkette B&B. Auch ein Pächter, ein indisches Restaurant, muss bis dahin raus. B&B reißt das Gebäude ab und errichtet einen Neubau. Zwar hätten die Geschwister auch Angebote von anderen Interessenten bekommen, etwa vom Betreiber eines Altenheims, sagt Morschheuser. "Doch wir haben uns für B&B entschieden, damit die Hoteltradition an diesem Ort erhalten bleibt."
Das Ende des Hotels habe viele Gründe, sagen die Geschwister. "Wir haben keinen Nachfolger gefunden. Und mit den Jahren sind die Vorgaben der Stadt für den Betrieb des Hotels auch immer schwieriger umzusetzen gewesen", erklärt Auer. "Außerdem hätten wir einen Millionenbetrag investieren müssen, um das Hotel zu modernisieren", ergänzt Morschheuser. Ein Familienbetrieb bedeute zudem viel Stress. "Ich war jeden Tag im Einsatz", sagt Auer.
Einen letzten Rundgang wird die Geschäftsführerin nicht mehr machen. "Ich war in den vergangenen Tagen mit Handwerkern und einem Entrümplungsdienst in jedem Zimmer. Ich habe alles gesehen."
Wenn der Abriss und die Bauarbeiten beginnen, will sie aber vorbeischauen. "Die Baulücke wird sicher erst einmal ein Schock." Ein halbes Jahr brauche sie bestimmt, bis sie das Ende verarbeitet habe. Sie geht jetzt in Rente und hat sich eine neue Aufgabe gesucht: "Ich bringe jetzt die Erinnerung aus Fotos und Dokumenten in Ordnung."
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