Heidelberg. Die Person, die wie alle anderen Interviewten nicht mit Namen genannt werden will, sagt: „Also wir waren vielleicht auch feige, ja? Wir waren vielleicht auch ängstlich. Das würde ich sagen, ja. Und wie das so ist: Man möchte eigentlich auch nicht dauernd mit diesem Scheiß zu tun haben, ne?“ Der „Scheiß“, von dem die Person spricht, das sind der sexuelle Missbrauch junger Patienten und die Grenzüberschreitungen bei der Ausbildung von Psychotherapeutinnen durch F. Dieser F., Kinderarzt und Psychotherapeut, leitete von 1975 bis 1993 das Heidelberger Institut für analytische Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapie (AKJP). Das Institut ist Ausbildungsstätte für Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten, zugleich können sich dort Kinder und Jugendliche behandeln lassen.
Mitarbeiter und Kollegen aus jenen Jahren und später, die Heidelberger Psychotherapeutenszene, das Erwachseneninstitut IPP Heidelberg-Mannheim, wo F. ebenfalls Mitglied und als Dozent tätig war, wussten von F.s Umtrieben oder sie ahnten sie zumindest. Doch die Gerüchte werden verdrängt, wer mehr weiß, schweigt.
Gehütetes „Familiengeheimnis“
Erst als F. 2017 wegen mehrfachen sexuellen Missbrauchs seiner vierjährigen Enkeltochter vor dem Heidelberger Landgericht steht, schließlich die „Zeit“ über ihn berichtet, kann das „Familiengeheimnis“, wie die „Causa F“ noch heute bezeichnet wird, nicht mehr unter dem Deckel gehalten werden. Die Mitgliederversammlung des Vereins, der Träger des Instituts ist, beschließt im Juni 2018, die Vorfälle extern aufarbeiten zu lassen. Es wird das Institut für Praxisforschung und Projektberatung in München (IPP), das bereits mit dem Missbrauch-Skandal an der Odenwaldschule befasst war, beauftragt, Licht ins Dunkel zu bringen.
Nun liegt das Ergebnis vor, in Form eines Buches. Das erscheint Ende Januar bei Springer VS; der Wiesbadener Verlag hat dieser Redaktion ein Vorab-Exemplar zur Verfügung gestellt. Die Abgründe, die sich auf den mehr als 230 Seiten auftun, sind tief. Verstörend vor allem ist die Frage, warum niemand eingeschritten ist. Warum F. so lange, vier Jahrzehnte, sein Unwesen treiben konnte, selbst dann noch, als er sich nach seinem erzwungenen Ausscheiden aus der Leitungsfunktion beim AKJP mit eigener Praxis in Seckach im Odenwald niedergelassen hatte. Dort behandelte er weiter Kinder und Jugendliche und fungierte als Zweitsichter für Kolleginnen und Kollegen, denen die Vorwürfe gegen ihn bekannt waren. Die Autoren der Studie, darunter IPP-Geschäftsführerin Helga Dill, haben dem Buch den Titel gegeben „Irgendwann muss doch mal Ruhe sein!“ Dieses Bedürfnis hatten am AKJP viele.
Welche Gründe dafür ausschlaggebend waren, dass Aufklärungsversuche im Sande verliefen, versucht das IPP in seiner Forschungsarbeit umfangreich zu ergründen. Als Grundlage dienen Interviews mit Betroffenen, ehemaligen Ausbildungskandidatinnen und damaligen Funktionsträgern, Akten des AKJP sowie Tagebücher von F., in die seine Witwe Einsicht gewährte.
Ex-Patientin geschwängert
Danach steht fest: Es gab viele Mitwisser, und F. war ein Serientäter. Übergriffig wurde er sowohl gegenüber angehenden Psychotherapeutinnen, die sich bei ihm auf die Couch legten, weil dies Teil ihrer Ausbildung ist, als auch gegenüber Kindern und Jugendlichen, die sich wegen Depressionen, Ängsten, psychischen Störungen bei ihm behandeln ließen. Er ging sexuelle Beziehungen mit den Frauen ein und verletzte damit Grenzen, die für Psychotherapeuten absolutes Tabu sind. Er schwängerte eine junge Frau, die kurz zuvor noch seine Patientin gewesen war, später heiratete er sie. Kinder und Jugendliche, die bei ihm in Therapie sind, müssen sich nackt ausziehen, er fasst sie an, stellt Fragen zur Sexualität. F. war wohl nicht pädosexuell, wie die Experten des IPP schreiben. Vielmehr sei es ihm um das Auskosten von Macht gegangen: „Er macht es, weil er es kann.“ Eine Reihe von Taten lassen sich eindeutig belegen, sie bilden aber „mit einiger Gewissheit nur die Spitze eines Eisberges aus uns nicht bekanntgewordenen Grenzverletzungen und Übergriffen“, fürchten die Autoren der Studie. Die Wahrheit war wohl weit monströser.
Abschlussbericht
- Im April 2019 begann das Institut für Praxisforschung und Projektberatung (IPP) in München mit der Aufarbeitung der „Causa F“.
- Eine Mitgliederversammlung des AKJP, des betroffenen Instituts, an dem der Missbrauch und die Grenzverletzungen stattfanden, hatte dies im Juni 2018 so beschlossen.
- Der ehemalige Leiter des AKJP konnte nicht mehr befragt werden, er starb im März 2019. Es gibt aber Tagebücher und Memoiren, die die Autoren des Berichts verwenden durften.
- Das Buch zum Fall erscheint voraussichtlich Ende Januar im Verlag Springer VS. Der Titel ist „Irgendwann muss doch mal Ruhe sein! Institutionelles Ringen um Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt und Machtmissbrauch an einem Institut für analytische Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie“. ISBN: 978-3-658-35512-8
- Anfang Januar will das AKJP, dem bereits seit dem Sommer eine Kurz- und Langfassung des Berichts vorliegt, auf die Ergebnisse in Form einer Presseerklärung aufmerksam machen, wie es seitens des IPP heißt.
Viele wussten vieles
Was man am AKJP davon wusste? Das Münchner Institut listet in seinem Bericht Dutzende Beispiele auf, die belegen, dass viele vieles wussten. Ab den 1970er Jahren etwa liegt eine Reihe von Protokollen vor, die F. verfasst hat und aus denen „beschämende körperliche Untersuchungen von Jungen“ hervorgehen. Schreibkräfte verfassten die Protokolle, Kinder- und Jugendlichen- Psychotherapeuten und -therapeutinnen lasen sie. Ende der 1970er Jahre ist F. mit einer Ausbildungskandidatin liiert, sie spricht am Institut offen über diese Beziehung.
Zeitzeugen erzählen in Interviews, dass „immer irgendetwas“ zwischen F. und einzelnen Ausbildungskandidatinnen lief. Mitte der 1980er Jahre erfährt eine Ausbildungskandidatin von einem 14- oder 15-jährigen Patienten, F. habe im Rahmen einer Sitzung an dessen Penis gespielt. Ein Mädchen berichtet seiner Mutter von grenzverletzten Untersuchungspraktiken, die Behandlung bei F. wird nicht fortgesetzt. 1980 wird der Sohn von F. geboren, die Mutter ist eine ehemalige Patientin, bei der Geburt ist sie gerade 19 Jahre alt. Niemand nimmt daran Anstoß, keiner schreitet ein. „Tatsächlich hat es bis Ende 1992 keinen erkennbaren Versuch gegeben, die vielfach bekanntgewordenen Grenzüberschreitungen, Übergriffe, Abstinenzverletzungen und den mit sexualisierten Mitteln verübten Machtmissbrauch ernsthaft zu problematisieren, geschweige denn zu beenden“, stellen die Autoren in ihrem Bericht fest.
Presseerklärung im Januar
Erst als die Gerüchte unüberhörbar werden, muss F. 1993 seine Leitungsfunktion am AKJP aufgeben. Es beginnt eine Phase der Aufarbeitung, 20 Anläufe zählt die IPP-Studie auf. Alle scheitern. Wie groß die Ignoranz Beteiligter war, zeigt eine Gruppe am AKJP, die sich „Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft“ nannte. Diese befasste sich im Jahr 2000 ausführlich mit sexualisierten Grenzverletzungen von F. gegenüber Kindern und Jugendlichen. Grund zum Handeln sah man aber nicht, obwohl F. zu jenem Zeitpunkt eine psychotherapeutische Praxis für Kinder, Jugendliche und Erwachsene betrieb.
Was also hielt die Menschen ab, F. das Handwerk zu legen? Für seine Zeit als Institutsleiter ist es wohl eine banale Erklärung: Man bangte um die Zukunft des Instituts, das F. erfolgreich positioniert hatte, nachdem er es Mitte der 1970er Jahre in fachlich wie wirtschaftlich schwieriger Lage vorgefunden hatte. Man fürchtete auch um den eigenen Ruf, wenn herauskäme, in welche Skandale das eigene Institut beziehungsweise die einstige Ausbildungsstätte verstrickt war. F. hatte außerdem mächtige Freunde, die deshalb schwiegen, weil es ihnen peinlich war, mit „so jemanden“ zusammenzuarbeiten und auch noch befreundet zu sein. Zu diesen Freunden zählte unter anderem der damalige Direktor der Psychosomatischen Universitätsklinik Heidelberg. Die beiden kannten sich aus Berlin. Auch sonst verfügte F. über funktionierende Netzwerke, die dafür sorgten, dass ihm seine Gutachtertätigkeit und seine Funktion als Fachberater für Psychotherapie bei der Krankenkasse nicht entzogen wurden, wie es in dem Bericht heißt.
„Das Ganze wird geschützt, das Opfer noch einmal geopfert“, schreibt der Psychiater und Psychoanalytiker Mathias Hirsch im Vorwort zum Buch. F. kann nicht mehr befragt werden. Er starb im März 2019 im Alter von 86 Jahren. Das AKJP, das seit mehreren Monaten über eine Kurz- und Langfassung des Berichts verfügt, will sich im Januar im Rahmen einer Presseerklärung zu den Ergebnissen äußern.
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