Auf der Landstraße platzt ein Reifen. Der Wagen kommt von der Fahrbahn ab, schleudert in einen Bus. Mehrere Fahrzeuge rasen in die Unfallstelle. Das Geschehen, das zu Toten und Verletzten führt, ist an diesem Tag zum Glück nur Teil einer Simulation. Im Einsatz sind Notärzte der Klinik für Anästhesiologie am Universitätsklinikum Heidelberg (UKHD). Um auf einen Massenanfall von Verletzten bestmöglich vorbereitet zu sein, trainieren sie unter modernsten Bedingungen.
„Mixed Reality“ (MR) heißt das Konzept der „vermischten Wirklichkeit“, bei der Umgebungen kombiniert werden, die die natürliche Wahrnehmung mit einer künstlich erzeugten vermischen. „In einer rein virtuellen Realität würden die sensorischen Komponenten fehlen, die aber für eine realistische Wahrnehmung und höhere Lerneffekte erforderlich sind“, erklärt Stefan Mohr, Oberarzt und Lehrbeauftragter der Klinik für Anästhesiologie. Weil aber auch der klassische Weg, bei dem Notizen während des Einsatzes auf Papier oder im Kopf gemacht werden, allein nicht genügt, sei Mixed Reality quasi das „Mittelding“.
Ergänzt wird die im Rahmen des Projekts „MED1stMR“ entwickelte MR-Technologie mit dem Einsatz von künstlicher Intelligenz (KI) und verschiedenen Messungen von Körperfunktionen. Die Resilienz der Akteure soll damit gestärkt und eine zielgerichtete Vorbereitung auf komplexe Unfallsituationen ermöglicht werden.
Zuschuss von der EU
Mit Sensoren versehene Simulationspuppen, die bis zu 90 000 Euro kosten, heben und senken den Brustkorb und werden von den Trainierenden versorgt. In der virtuellen Umgebung erscheinen sie als Avatare auf dem Bildschirm. Zu sehen sind simulierte Verletzungen und Verhaltensweisen.
Das Training in Heidelberg, bei dem Viererteams drei Stunden lang verschiedene Szenarien durchlaufen, ist das zweite von sechs so genannten „Field Trials“. Dabei werden die Technologie und das Trainingsprogramm interdisziplinär umgesetzt. Den Anfang machte die Übung bei den österreichischen Johannitern vom 24. bis 28. Juli. Die Hilfsorganisation ist einer von 18 Projektpartnern und, wie das UKHD, einer von sieben „End Usern“. Koordinator ist das Technologiezentrum am Austrian Institute of Technology (AIT) unter Leitung von Helmut Schrom-Feiertag. Dort wurde das Forschungs- und Innovationsprojekt 2021 gestartet. Für 36 Monate fließt ein Zuschuss von 7,8 Millionen Euro aus dem EU-Förderprogramm „Horizon 2020“.
Während der Übung in der Eingangshalle der Alten Chirurgie erreicht die mit Biosensoren und VR-Brillen ausgerüsteten Retter auf einmal eine Nachricht: „Ein Maxi-Cosi wurde gefunden!“ Sofort startet die Suche nach dem vermuteten Säugling. Zwei Rettungswagen sind bereits angefordert. Und noch eine Meldung tönt aus dem Kontrollzentrum: „Haltet Abstand vom weißen Elektroauto, der Akku konnte nicht abgeklemmt werden!“
Auf Monitoren begleiten die Trainer das Tun ihrer Notärzte, das Stresslevel der Aktiven wird laufend gemessen. Rot, grün und gelb erscheint die Belastung auf dem Display. Zu hoch soll sie heute nicht sein. „Das MED1stMR-System bietet eine realitätsnahe Stressinduktion und gleichzeitig eine enge Abstimmung auf die Bedürfnisse der Trainees“, verdeutlicht Professorin Marie Ottilie Frenkel den Zusammenhang. Die Forschungsleiterin an der Hochschule Furtwangen spricht von einem „multisensorischen Erlebnis“, das die Lerneffektivität erhöhe.
Zu diesem Zweck schließt sich dem Training ein Debriefing an. „Wie geht es dir, was war?“ sind typische Fragen an jede Einsatzkraft. Am Dashboard lässt sich das Erlebte noch einmal betrachten, Daten werden ausgewertet. „Die medizinische Aus- und Weiterbildung kann durch Mixed Reality sinnvoll ergänzt werden“, glaubt Professor Christoph Michalski, Ärztlicher Direktor der Klinik für Allgemein-, Viszeral- und Transplantationschirurgie am UKHD. Im Zentrum steht für ihn die praktische Verwertbarkeit der wissenschaftlichen Erkenntnisse.
Realübungen weiter unverzichtbar
Notwendig hierfür: eine möglichst einfache Bedienung der Technologie. Verantwortlich dafür ist Birgit Harthum vom Wiener Projektpartner USECON. Die Projektentwicklerin soll auch die späteren Business Models vermarkten. Professor Markus Weigand, Ärztlicher Direktor der Klinik für Anästhesiologie, betont den Nutzen von „zusätzlichen, realitätsnahen Übungseinheiten“. Handlungssicherheit werde erhöht, Bewältigungsstrategien verbessert. Die aus Kosten- und Ressourcengründen eher seltenen großangelegten Realübungen blieben dennoch unverzichtbar.
Am Ende des ersten 15-minütigen Trainings in Heidelberg ist das Einsatzteam erleichtert: Verletzte konnten versorgt werden, ein Säugling war nicht involviert. Nur das Elektroauto ist weiter nicht unter Kontrolle.
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