Heidelberg. Wer das Böse verstehen will, muss nicht erst den Teufel bemühen. Manchmal genügt schon eine Demütigung, um einen bislang rechtschaffenen Menschen in einen böse handelnden Zeitgenossen zu verwandeln. Wie Michael Kohlhaas, brandenburgischer Rosshändler, der in Kleists gleichnamiger Erzählung zunächst als tugendhaft, wohltätig und gerecht beschrieben wird.
Doch dann sieht er rot. Muss er doch mehr als deutlich erfahren, dass in dieser Welt, oft vertreten von einer korrupten, arroganten Gesellschaftsschicht, die Gerechtigkeit nur eine untergeordnete Rolle spielt. Erst hat man seine Pferde ruiniert, den Knecht misshandelt und schließlich auch noch seine Frau tödlich verletzt, als sie dem Kurfürsten eine Bittschrift überreichen wollte. Jetzt ist sein „Schmerz, die Welt in einer so ungeheuren Unordnung zu erblicken“ derart tief, dass er mordend und Feuer legend durch Sachsen zieht.
Was Kleist in seiner Novelle „Michael Kohlhaas“, die Lene Grösch und Markus Dietz für das Heidelberger Stadttheater bearbeiteten, beschreibt, ist ein blutiger Aufstand gegen das Unrecht, der Kampf eines Gekränkten gegen eine höfische Adelsclique, die das berechtigte Anliegen von Kohlhaas ignoriert. Ines Nadler hat eine große, von Neonröhren gesäumte bewegliche Wand auf die Bühne des Marguerre-Saals gestellt. Auf sie malt Raphael Gehrmann als Kohlhaas mit weißer Farbe das Wort Gerechtigkeit. Wenig später wird er in einer zu langen, kräftezehrenden Aktion die Wand und ihre Aufschrift zerstören.
Weder der Regisseur Markus Dietz noch sein Schauspieler Raphael Gehrmann bemühen sich, die Schrecken Kleists zu mildern, sie in ein fernes blutiges Märchen jenseits der Realität zu verlagern. Im Gegenteil. Eher beweist Dietz ein kleistsches Gemüt, indem er das Entsetzliche beim Namen nennt und im konsequenten Aufzeigen krasser Kontraste von Herrschenden und Beherrschten zu zeitgenössischen Assoziationen verlockt, ohne ihnen allerdings zu erliegen. Selbst wenn spürbar bleibt, dass die Ungenauigkeiten des modernen sozialen Wertesystems und die frühere Ständeordnung gewisse Parallelen aufweisen.
Kleist als Naziheld
- Im Jahr 1942 druckte das Oberkommando der Wehrmacht Kleists Novelle „Michael Kohlhaas“ als Feldpostausgabe. Auf der Titelseite ein grimmig dreinschauender Krieger mit Schwert und brennenden Häusern im Hintergrund. Ausgerechnet Kohlhaas als Held, den der Autor doch elend scheitern lässt.
- Auch Kleist selbst, der sich 34-jährig am Kleinen Wannsee erschoss, taugt eigentlich wenig für eine Heldentod-Verehrung. Dennoch stiftete ihm die Reichshauptstadt einen neuen Grabstein. Vermutlich, weil die Nazis in ihm eher einen Unzeitgemäßen sahen, der in einer SS-Uniform nicht den Freitod gewählt, sondern für den Endsieg gekämpft hätte.
Begleitet und ergänzt von einem fabelhaft sprechenden Ensemble (Nicole Averkamp, Benedict Fellmer, Lisa Förster, Dietmar Nieder, Friedrich Witte), verliert Kohlhaas zwischen Spiel, Erzählung und Kommentar zunehmend den Boden unter den Füßen. Kein sicherer Ort zum Bleiben, nirgendwo. Doch so dicht die Aufführung anfangs auch ist, der kollektiv gestaltete Rhythmus beginnt zu bröckeln, wenn Dietz sich in ein Vernichtungsspektakel verrennt oder der umständlichen Erzählweise Kleists mehr vertraut als seinen eigenen geradlinig inszenierten Mitteilungen. Ohnehin eine schwierige Gratwanderung, die beweist, dass die Optimierung nüchterner textbezogener Nachrichten und Kleists Schreibkunst der gefühlten und geahnten Andeutungen und Abschweifungen offenbar nur schwer zu vereinbaren sind.
Gerechtigkeitssinn und Mordlust greifen bei Gehrmanns Kohlhaas unentwirrbar ineinander. Das von ihm ausgelöste angeblich reinigende Stahlgewitter, das die alte Weltordnung wieder herstellen soll, erweist sich rasch als wirkungslos, da die Obrigkeit lange Zeit nur die Rebellion sieht, nicht aber deren Ursachen. Klug enthüllt Gehrmann die Schwächen eines fehlbaren Menschen, der aufs Ganze gesehen unangemessen reagiert. Unfähig größere Zusammenhänge zu erkennen, trifft er seine Entscheidungen aus einer sehr persönlichen Unmittelbarkeit heraus und wird so zum Terroristen in eigener Sache.
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