Rhein-Neckar. Wer Rehkitze retten will, muss früh aufstehen. Sehr früh. Der Wecker klingelt um 2.15 Uhr. Die Straßen sind zu dieser Zeit leergefegt, wenn man das Haus verlässt. Ampelanlagen sind aus oder blinken nur. Und doch steuern auffällig viele Autos an diesem Morgen einen Parkplatz in Heddesheim an. Aus der Ferne blitzen die Scheinwerfer der Fahrzeuge auf, ehe sie kurze Zeit später auf den Schotterparkplatz am Bühlerhof rollen. Denn dort treffen sich die Helfer und Helferinnen der Rehkitzrettung Weinheim und Umgebung.
Die Ehrenamtlichen sind gerade jeden Tag unterwegs, um Rehkitze in Feldern aufzuspüren. Der Auftrag dazu kommt unter anderem von Landwirten. Die Rehkitzrettung soll ihre Flächen kontrollieren, damit beim Mähen keine Tiere zu Tode kommen. Erst in diesen Tagen wurde ein Fall in Laudenbach gerichtlich behandelt.
Vier Männer sollen Rehkitze lebensgefährlich verletzt und totgeschlagen haben. Das Gericht spricht drei der Angeklagten frei, einer wird zu einer Geldstrafe verurteilt. Auch Michael Ehlers und Elke Fröhlich waren bei der Gerichtsverhandlung in Weinheim dabei.
Wieso in der Nacht unterwegs?
„Ich habe nur eine Stunde geschlafen“, sagt Ehlers und lacht. Gewöhnt man sich als Ehrenamtlicher an die frühen Zeiten, zu denen der Wecker klingelt? Die Helfer und Helferinnen lachen. „Es ist jedes Mal ein Kampf.“ Elke Fröhlich hielt ein stark verletztes Tier bereits in den Armen. „Wenn bei einem Kitz die Beine abgetrennt sind, es quiekt und schreit, weißt du, wofür du es machst“, sagt Fröhlich.
Auch wenn es in den frühen Morgenstunden noch dunkel ist, sieht man ihre glasige Augen. Sie schluckt schwer und richtet den Blick wieder auf einen Monitor.
Dort ist in verschiedenen Grauabstufungen das Feld zu sehen. Über ihrem Kopf surrt es leise. Einige Meter in der Luft fliegt eine Drohne, die das Wärmebild der Kamera auf den Monitor von Fröhlich überträgt. Die Gruppe muss frühmorgens im Dunkeln losziehen.
Bei Tageslicht würden Steine oder andere Dinge zu stark reflektiert. Auf dem Monitor entsteht ein Wimmelbild - Rehkitze erkennt man so nur schwer. Denn es sind winzige, helle Punkte - nicht größer als der Kopf eines Nagels -, die Fröhlich mit zusammengekniffenen Augen sucht. Sobald sie einen auffälligen Fleck entdeckt, nimmt sie das Walkie-Talkie in die Hand.
Handy von Tierretter klingelt bis zu 32 Mal am Tag
Am anderen Ende der Leitung ist Henriette Stutz zu hören. Sie stapft, ausgerüstet mit Gummistiefeln und Regenjacke, mit einer Gruppe durch das Feld. Mit dabei haben sie Kescher und Kunststoff-Körbe. „Zur Drohne bitte“, weist Fröhlich an. Auf dem Monitor tauchen helle Streifen auf, die sich auf einen Punkt zubewegen. „Noch ein Stückchen nach links, jetzt den Kescher vorsichtig nach unten.“ Fröhlich gibt genaue Anweisungen. Einige Sekunden später erhält sie Antwort: „Hier ist nichts.“ Fröhlich kneift die Augen wieder zusammen, die Drohne surrt in die nächste Ecke des Feldes. „Lieber einmal zu viel nachgeschaut.“
Hinter Fröhlich steht am Morgen auch Wolfgang Bottenschein und blickt auf den Monitor. Um den Hals trägt er ein Fernglas. Gekleidet ist er komplett im Grün. Im Auto, das am Straßenrand parkt, wartet brav sein Dackel. Bottenschein gehört zur Heddesheimer Jagdgesellschaft.
Spenden an den Verein
- Auf Facebook teilt der Verein unter „Rehkitzrettung Weinheim und Umgebung“ Fotos mit seinen rund 1000 Followern und berichtet, wie die Einsätze gelaufen sind und wie viele Rehkitze gerettet wurden.
- Damit die Drohnen für die Rettung dienen und die Flächen abfliegen können, müssen die Wiesen und Felder kartiert werden. Hierzu schicken die Landwirte eine Karte des Feldes oder ein Foto von Google Maps.
- Von den Landwirten wünschen sich die Retter und Retterinnen teilweise mehr Unterstützung, denn das Absuchen der Wiesen und Felder ist mit viel Arbeit und Mühe verbunden. Der Verein übernimmt dies komplett kostenlos und finanziert sich über Spenden. Die Ausrüstung für ein Team kostet dabei bis zu 10 000 Euro.
- Sparkasse Rhein Neckar Nord IBAN DE41 6705 0505 0039 9189 35 oder PayPal rehkitzrettung.weinheim@gmail.com
Er hat dem Team Bescheid gegeben, dass der Landwirt mähen möchte. Als Michael Ehlers das Feld morgens betritt und der Lichtkegel seiner Stirnlampe auf das Gras fällt, ärgert er sich. „Der vordere Teil wurde schon abgemäht. Das verstehe ich nicht.“ Er trägt ein Büschel des abgemähten Grases auf den Parkplatz. „Wenn da schon etwas drin gewesen ist, hatte es keine Chance.“ Seine Worte klingen traurig.
Ehlers kommt aus dem Tierschutz. 200 Tiere retten er und die anderen Helfer und Helferinnen im Jahr. Das erste Kitz haben sie in diesem Jahr Ende April gefunden. Die meisten Rehkitze werden bis Ende Mai gesetzt. Für die Gruppe ist gerade Hauptsaison.
Manchmal klingelt das Handy von Ehlers 32 Mal am Tag. Die meisten Anrufe kommen von Landwirten, die in den nächsten Tagen mähen wollen. „Teilweise ist es wie beim Pizzalieferanten, bei dem das Telefon die ganze Zeit geht.“ Am Ende der Setzzeit - der Zeit, in der Rehe ihren Nachwuchs bekommen - kommt die Gruppe so auf 40 Einsätze. Teilweise sind sie jeden Tag unterwegs. „Für uns geht es danach nicht ins Bett, sondern direkt weiter zur Arbeit“, sagt Fröhlich.
Unter einem Korb in Sicherheit
Oder zum nächsten Einsatz. In Heddesheim haben die Ehrenamtlichen nach eineinhalb Stunden kein Kitz gefunden. Ein Teil der Gruppe zieht zu einem nahe gelegenen Feld weiter, ein anderer Teil macht sich auf den Weg nach Lampertheim.
Dort sind seit 3 Uhr Volker Günderoth und Ludgar Schäfers zu zweit im Einsatz. Mittlerweile ist es 5 Uhr, und die ersten Sonnenstrahlen verschwimmen mit dem dunklen Blau der Nacht. Der Tag beginnt. Das Gezwitscher der Vögel hört man laut. Das Surren der Drohne kaum.
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Gestartet haben Schäfers und Günderoth die Drohne von einem Tisch, der im hohen Gras so aussieht, als hätte er keine Beine und würde freischweben. Fast bis zur Nasenspitze reichen die Gräser, die sich vor den beiden Männern nach vorne biegen. „Wir haben schon vier Kitze gefunden und gesichert“, berichtet Günderoth. Er fuchtelt mit einer Hand vor seinem Gesicht herum, um ein paar Schnaken abzuwehren.
Direkt am Fluss im Naturschutzgebiet, wo es am Morgen noch feucht ist, fliegen Hunderte der kleinen Tierchen durch die Luft. Günderoth schaltet das Walkie-Talkie ein. „Wir haben hier noch ein Kitz.“ Auf dem Monitor der Drohne sieht man, wie sich drei Personen im Feld mit Kescher und Körben Richtung Kitz bewegen. Im hohen Gras verschwinden sie.
Gefahr durch Straßenverkehr
Nur ein Rascheln ist zu hören, wenn sie Gräser zur Seite abknicken, um hindurchzulaufen. „Das Kitz ist abgesprungen“, meldet Günderoth. Der helle Fleck hat sich abrupt woanders hinbewegt und ist nicht mehr im Sichtfeld der Drohne. „Wir haben die Gräser noch wackeln gesehen“, heißt es vom anderen Ende der Leitung. Mehrfach hat das Team versucht, dieses Kitz zu fangen. Ohne Erfolg. „Wir geben dem Landwirt Bescheid, dass noch ein Kitz in der Wiese ist, und hoffen, er passt beim Mähen auf“, sagt Günderoth nachdenklich.
Die anderen Kitze sind in Sicherheit. Eine Stange und ein rot-weißes Fähnchen markieren, wo sie im Gras liegen. Günderoth hat außerdem auf einem Zettel die genaue Position der Kitze markiert. Inmitten der Wiese steht ein Korb, der auf den Kopf gedreht ist. Darüber liegen Gräser, die Schutz und Schatten spenden. Vorsichtig klappt Günderoth den Korb nach oben. Zwei Kulleraugen schauen ihn ängstlich an. Zusammengerollt liegt das Kitz im Gras. „Heute konnten wir echt viele Kitze in Sicherheit bringen. Das ist super.“
Ein Wermutstropfen bleibt bei allem Einsatz doch, den Jagdpächter Bottenschein unverhohlen äußert. „Es ist toll, was mit der Technik der Drohne möglich ist, und dass viele Tiere so gerettet werden. Aber wenige Monate später sterben leider viele Rehe, weil sie von Autos auf der Straße erfasst werden.“ Als er das sagt, saust auf der Landstraße, die nur wenige Meter vom Feld entlangführt, ein Auto an Bottenschein vorbei.
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