Heidelberg. Ein säuerlicher Geruch nach gedämpften Getreide liegt über dem langen Gang. Auf der linken Seite stehen Rollregale mit Kunststoffgefäßen, die mit Holzspänen und Stroh ausgelegt sind. Nach rechts öffnen Metalltüren den Weg zu den Räumen mit den Versuchstieren, Ratten und Mäusen. Nie zuvor hat das Deutsche Krebsforschungszentrum Heidelberg sein Tierhaus für mehrere Medienteams geöffnet. Am Donnerstag gab es diese Möglichkeit – aus Anlass des Tages des Versuchstiers am Sonntag.
Sieben Tierärzte und etwa 60 Pfleger kümmern sich um die Nager, Krallenfrösche und Meerschweinchen. 2021 seien 55 514 Tiere für wissenschaftliche Zwecke genutzt worden, berichtet Annalena Riedasch, Tierärztin im Zentrum für präklinische Forschung am DKFZ
Lebenszeit sehr unterschiedlich
„Die Mäuse leben nur wenige Tage lang oder bis zu zwei Jahren“, erklärt der Leiter des Tierhauses, der Wissenschaftler Kurt Reifenberg. Streng überwacht und überprüft wird, wie es dem Tier geht, dem zum Beispiel Zellen aus menschlichen Darmtumoren unter die Haut gesetzt werden. Keinem Tier darf unnötig Schmerz zugefügt werden, dafür steht auch das Tierschutzgesetz. Wann eine Maus oder Ratte eingeschläfert wird, ist kein Ermessensspielraum, sondern folgt streng festgelegten Kriterien, erklärt Reifenberg weiter. Lebend verlässt kein Tier das Labor: Die Mäuse sind speziell gezüchtet und größtenteils gentechnisch verändert, damit sie überhaupt als Versuchstiere sinnvoll eingesetzt werden können. Warum Mäuse? „Sie sind die am gründlichsten erforschten Versuchstiere“, erklärt Reifenberg. Die kleinen Mäuse benötigen zudem wenig Platz und sind kostengünstiger. Aber auch Ratten, Krallenfrösche und vier Meerschweinchen gehören zum aktuellen Bestand.
„Tierversuche sind in unserer Forschung das Thema, das wohl am kontroversesten diskutiert wird“, weiß auch DKFZ-Sprecherin Sibylle Kohlstädt. Veterinärin Gaby Neumann von Ärzte gegen Tierversuche sagte etwa dpa auf Anfrage: „95 Prozent der Krebsmedikamente, die im Tierversuch wirksam und gut verträglich sind, scheitern in den anschließenden Studien am Menschen. Vor allem, weil sie nicht wirken oder hochgradige Nebenwirkungen verursachen.“
Tierversuche
- In Deutschland wurden 2020 knapp 1,9 Millionen Wirbeltiere und Kopffüßer als Versuchstiere eingesetzt – ein Jahr zuvor waren es 14 Prozent mehr.
- Am DKFZ sind 2021 genau 55 514 Tiere für wissenschaftliche Zwecke genutzt worden – darunter 44 300 Mäuse und 500 Ratten.
- Nach Angaben von Tierversuchsgegnerin Neumann fließen über 99 Prozent der öffentlichen Gelder in tierexperimentelle Forschung - und nur unter 1 Prozent in tierversuchsfreie Technologien.
Ob ein erfolgversprechender Forschungsansatz auch wirklich Menschen Heilung bringt, kann niemand vorhersagen. Angelika Riemer, die Leiterin der Abteilung Immuntherapie- und -prävention, forscht an einem therapeutischen Impfstoff zur Behandlung von HPV-bedingten Krebsarten. Humane Papillomviren (HPV) können nicht nur Gebärmutterhalskrebs auslösen, sondern auch Anal- und Speiseröhrenkrebs. 7700 Krebsfälle werden in Deutschland im Jahr mit einer HPV-Impfung in Verbindung gebracht. Wird Riemers Forschung erfolgreich, könnten möglicherweise Hunderte Krebstote vermieden werden. Das ist auch für Reifenberg die stärkste Motivation für Tierversuche. Dass es seit 2007 für Kinder eine HPV-Impfung gibt, ist einem anderen DKFZ-Forscher zu verdanken: Harald zur Hausen bekam 2008 für seine Arbeit – auch an Tieren – den Medizin-Nobelpreis.
Auf die Suche nach Medikamenten, die krebsfördernde Entzündungen der Leber aufhalten, ist Mathias Heikenwälder. Der Leiter der Abteilung Chronische Entzündungen und Krebs betont, dass solche Studien niemals im Reagenzglas ausgeführt werden könnten: Es gehe um Einflüsse, die lange Zeit auf den Organismus wirken.
Fettleber als Zivilisationsproblem
Fette Ernährung, Bewegungsmangel und Infektionen fördern die Entstehung von Leberkrebs. Jeder dritte Europäer habe bereits heute eine Fettleber. Bei den Mäusen im Versuch kann er belegen: Jedes dritte bis vierte verfettete Organ entwickelt Tumore. Der renommierte Mikro- und Molekularbiologe Heikenwälder, sorgt sich indes um die Bedingungen für die Forschung. So nehme der bürokratische Aufwand von Tierversuchen stetig zu – was Zeit und Geld koste. „Wir haben eine Forscherstelle kürzen müssen, um eine Person allein dafür einstellen zu können“, nennt er ein Beispiel.
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