Heidelberg. Dass ein Klassizist auch Neoklassizismus kann, versteht sich fast von selbst. Und so beginnt das Solorecital von Kirill Gerstein mit Strawinsky und dessen Klaviersonate aus dem Jahre 1924. Sie hat damals viele Komponisten nachhaltig beeinflusst, in Konzertprogrammen taucht sie freilich selten auf. Beim Heidelberger Frühling in der vollbesetzten Neuen Universitäts-Aula kann selbst ein Kirill Gerstein nicht die Sprödigkeit des Stücks kaschieren (seine Außensätze etwa sind mit bloßen Metronom-Angaben überschrieben). Aber er lässt sehr subtil barocke Fundamente durchscheinen. Und im Finale dreht er auf, in seiner Leichtigkeit und Mühelosigkeit ist das dann doch furios.
Schlank und trocken
Igor Strawinskys Zehnminüter bleibt indessen eine Randnotiz, eine nur mittlere Erhebung im Vergleich zu den Sonaten-Gipfeln, die noch folgen sollen. Ein wahrhaft gehaltvolles Programm hat Gerstein abzuarbeiten, aber nach Arbeit klingt es nie. Auch wenn in Schuberts später 19. Klaviersonate in c-Moll auf Beethoven Bezug genommen wird: Die kantigen Akkorde türmen sich zwar angemessen wuchtig, werden aber trotzdem schlank und trocken in die Tastatur gestanzt. Danach lässt sich die Schubert-Werdung Schuberts dank erhellender Strukturgenauigkeit verfolgen – wenn den typisch singenden Oktav-Achteln markant geschliffene Begleittriolen unterlegt werden.
Zu Hause in der Welt
Der 43 Jahre alte Pianist, aus Russland stammend, in Berlin lebend, doch in der ganzen Welt zu Hause, ist auch musikalisch ein Kosmopolit. Ein Mann, der alles kennt und kann. Die manuelle Perfektion mindert den Widerstand des Materials, ein Gerstein muss sich nichts erkämpfen (scheint es). Daher rührt sein tendenzieller Klassizismus. Alles wirkt gebändigt, zweifelsfrei beherrscht. Sogar die Dämonie in Liszts h-Moll-Sonate, präludiert von der „Bénédiction de Dieu“.
Das weiträumige Spiel von Kirill Gerstein, die extreme Tiefenschärfe auch noch bei geringer Lautstärke feiern in zwei Etüden György Ligetis besondere Triumphe.
URL dieses Artikels:
https://www.mannheimer-morgen.de/orte/heidelberg_artikel,-heidelberg-kirill-gerstein-ueberzeugt-bei-heidelberger-fruehling-_arid,2063366.html