Justiz

Heidelberger Normannia-Affäre: Richterin kritisiert Burschenschaft scharf

Vor dem Amtsgericht in Heidelberg ist am Donnerstag das Urteil gegen vier Burschenschaftler gefallen. In ihrer Urteilsbegründung rekonstruiert die Vorsitzende Richterin den Abend

Von 
Agnes Polewka
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Das Gericht ist davon überzeugt, dass ein Mann im Verbindungshaus der Heidelberger Normannia antisemitisch beleidigt und verletzt worden ist. © imago/suedraumfoto

André R. greift nach der Hand seines Verteidigers, schüttelt sie energisch. Und lehnt sich dann auf seinem Stuhl auf der Anklagebank zurück, atmet aus. Seit Anfang November musste sich R. gemeinsam mit drei anderen Burschenschaftlern vor dem Heidelberger Amtsgericht verantworten. Wegen gefährlicher Körperverletzung und tätlicher Beleidigung. Nun hat die Vorsitzende Richterin Nicole Bargatzky ihn freigesprochen. Nicht, weil sie von seiner Unschuld überzeugt ist, sondern weil sie Zweifel an seiner Schuld hat, sagt sie. Bei den drei anderen Beschuldigten bestehen diese laut Gericht nicht. Bargatzky verhängt acht-monatige Bewährungsstrafen. Und fällt noch ein weiteres, ein härteres Urteil: „Es ging während des gesamten Prozesses darum, das Ansehen der Burschenschaft zu bewahren.“

Gericht rekonstruiert Tatabend

Anstelle der Angeklagten sei vielmehr die Burschenschaft verteidigt worden. „Hier wurde ganz klar Einfluss genommen“, sagt Bargatzky. Drei Verhandlungstage lang hätten die Angeklagten keine Gemütsregung gezeigt. Zwei von ihnen hätten auch nach dem Jugendstrafrecht verurteilt werden können, weil sie zum Tatzeitpunkt noch nicht 21 Jahre alt gewesen seien. Aber die Verteidiger hätten dies noch nicht einmal zur Sprache gebracht. Zeugen hätten persönliche Nachteile in Kauf genommen. Ermittlungen wegen uneidlicher Falschaussage. Damit ist vor dem Amtsgericht ein Prozess um Vorgänge zu Ende gegangen, die international für Schlagzeilen gesorgt haben. Im Zentrum des Verfahrens stand die Frage danach, was in der Nacht vom 28. auf den 29. August 2020 im Verbindungshaus der Heidelberger Burschenschaft Normannia passiert ist.

In ihrer Urteilsbegründung rekonstruiert die Vorsitzende Richterin den Abend: Um 22.41 Uhr entspann sich ein WhatsApp-Chat zwischen dem angeklagten Luis S. - ein Verbindungsbruder der Heidelberger Normannia - und seinem 25-jährigen Kumpel. Beide verabredeten sich für den weiteren Abend. S. kündigte dem Freund an, er werde bei Ankunft „gegürtelt“ werden. „Wir haben während des Prozesses gelernt: Dabei handelt es sich um ein Ritual der Normannen, um ein einfaches Abstrafen unter Freunden“, sagt Bargatzky. Immer wieder ging es während des Prozesses um das sogenannte Gürteln. Um Schläge auf den Hintern, die sich die Normannen gegenseitig verpasst haben sollen, wenn einer von ihnen zu spät kam oder sich andere „Verfehlungen“ geleistet habe. Dabei wurde auch klar: Das „Gürteln“ war keine ernste Angelegenheit, sondern ein pubertärer Spaß.

Wie ging es weiter nach dem Chat? Der 25-Jährige kam laut Gericht gegen 1 Uhr ins Verbindungshaus am Kurzen Buckel. „Zu diesem Zeitpunkt stand fest - davon bin ich überzeugt -, dass man sich mit dem Geschädigten einen Spaß erlauben wollte“, sagt die Vorsitzende Richterin. Aber, und das sei der große Fehler gewesen, Luis S. zog Fremde ins Vertrauen, weihte sie in das Ritual des „Gürtelns“ ein. Die Fremden, das waren Verbindungsbrüder auswärtiger Burschenschaften, die zum „Bummeln“ im Verbindungshaus der Normannen gekommen seien. Und S. habe noch mehr gesagt: „Er äußerte, dass sein Freund jüdischer Herkunft sei - und dann bekam das Ganze den Drive, der dafür gesorgt hat, dass wir hier verhandeln.“

„Judensau“ und „Schweinejude“

Als der 25-Jährige das Haus betreten habe, habe ihn ein Partygast gefragt: „Bist du Jude?“, was der junge Mann bejahte. Er verwies auf seine jüdische Großmutter. „Und dann kippte die Stimmung“, sagt die Richterin. Mehrere Gäste des Fests hätten ihre Gürtel gezogen, hieben damit auf den 25-Jährigen ein. „Der Akt des Gürtelns bekam einen rein antisemitischen Charakter“, sagt Bargatzky. Beschimpfungen prasselten auf den Mann ein. „Judensau“, „Schweinejude“. Niemand im Raum sei dazwischen gegangen. „Keiner brüllte hier eindeutig: Seid ihr alle wahnsinnig?“, wirft die Richterin ein. Und auch deshalb habe die Tat so überhaupt stattfinden können.

Die Schläge endeten laut Bargatzky erst, als der 25-Jährige einem seiner Peiniger ein Bier über den Kopf geschüttet habe. Dieser Mann - ein Mitglied der Kölner Burschenschaft Germania - sitzt laut der Vorsitzenden Richterin auf der Anklagebank, hinter André R. und Luis S., den beiden Heidelberger Burschenschaftlern, und neben einem seiner Verbindungsbrüder aus Köln.

Paralysiert von den Schlägen habe sich der 25-Jährige dann an die Bar gestellt und sei von den Umstehenden mit Münzen beworfen worden - eine Anspielung auf das stereotype Bild des geldgierigen Juden.

Dann lässt Nicole Bargatzky die schwierige Beweisaufnahme Revue passieren, die vielen Zeugen, die sich nicht erinnern konnten oder wollten. Die anderen, die mit jeder Vernehmung detailreicher geworden seien und sich in Widersprüche verstrickt hätten. Durch Chatverläufe, rekonstruierte Gespräche, oder weil die Angeklagten klar identifierziert worden seien, habe sie keinen Zweifel an der Schuld von drei Angeklagten. „Dass es mehr Beteiligte waren, wissen wir“, sagt die Richterin. Ob der vierte Angeklagte, André R., zu ihrem Kreis gehörte, mit dieser Frage habe sie sich lange herumgequält, sagt sie. „Aber ich kann einen Freispruch besser begründen als eine Verurteilung.“ Zu viele Dinge seien offengeblieben, vage, unklar. Deshalb kam sie der Forderung der Staatsanwaltschaft nicht nach, die in ihrem Plädoyer elf Monate Haft auf Bewährung für alle Angeklagten gefordert hatte. Nach fast anderthalb Stunden Urteilsbegründung richtet sie das Wort noch einmal an R.: „Ich hoffe sehr, dass sie irgendwann Ihren hippokratischen Eid über Ihre Weltanschauung stellen werden.“

Redaktion

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