Heidelberg. Ende Dezember 1991 brachte es der Hohe Nistler, ein sonst nicht weiter erwähnenswerter Berg bei Handschuhsheim, zu trauriger Berühmtheit. Damals raste dort ein Propellerflugzeug in die nebelverhangenen Baumwipfel. Der gespaltene Rumpf wickelte sich um das Holz, und von den 31 Passagieren überlebten nur drei. Das Unglück war Aufmacher in der „Tagesschau“, und heute mahnen Gedenksteine am Ort des Geschehens. Unter den Toten befand sich der 31-jährige Regisseur und Maler Martin Kirchberger, der mit seinem Filmteam und Statisten während des Fluges die satirische, fiktive Kurzdokumentation „Bunkerlow“ drehen wollte.
An die Tragik des Unfalls, die in das Leben der Hinterbliebenen unvermittelt einbrach, erinnerte jetzt auch das Karlstorkino mit Ausstrahlung der Dokumentation „Wunder der Wirklichkeit“. Sie erhielt 2017 den Hessischen Filmpreis.
Regisseur Thomas Frickel, der wie Kirchberger aus Rüsselsheim stammt, erstellte seinen Film aus dem Archivmaterial seines Freundes sowie dessen privaten Urlaubs- und Freizeitaufnahmen. Gespräche mit Kirchbergers Mutter, dem Tonmann, der den Absturz unverletzt überstand, sowie weiteren Angehörigen und Freunden komplettierten das emotionale Porträt. Den großen zeitlichen Abstand hätten viele gebraucht, um jetzt über ihre Emotionen und Erinnerungen im Film sprechen zu können, sagt Frickel. Mal sitzen die Protagonisten allein vor der Kamera, mal tritt Frickel selbst auf, wenn er frühe Comiczeichnungen Kirchbergers sichtet oder mit ehemaligen Weggefährten zu Erinnerungsorten fährt.
Der Zuschauer erlebt Kirchberger als einen stets lachenden, vielseitig begabten jungen Mann mit großer Brille, Dreitagebart und dunkler Lockenmähne. Aus ihm scheinen ununterbrochen Ideen für satirische, die politischen Debatten der 1980er Jahre aufnehmende Kunstprojekte zu sprudeln. Mit Uwe Wenzel trat er als „Wendemaler“ in Erscheinung und protestierte gegen Projekte der Regierung von Helmut Kohl wie den maschinenlesbaren Personalausweis, indem er den Pass Adam Opels an die Fassade des Rüsselsheimer Rathauses malte. Um den Bau der Startbahn West des nahen Frankfurter Flughafens zu verhindern, zogen beide mit weiteren jungen Erwachsenen in ein Hüttendorf und stellten sich halbnackt Polizisten mit Schlagstöcken entgegen.
In seiner kurzweiligen und dennoch gehaltvollen Beschreibung des kleinstädtischen Alltags, den Kirchberger und seine Freunde mit ihrer Kunst aber durcheinanderbringen, entpuppt sich der Film nicht als ernste oder gar melancholische Beschreibung einer großen Tragödie. Das sei ausdrücklich nicht Thomas Frickels Intention gewesen. „Sie dürfen auch lachen“, nahm er dem Publikum vor dem Start die Bedenken. In der Tat ist es ziemlich witzig zu sehen, wie Kirchberger und seine Freunde in der Rüsselsheimer Innenstadt Salatgurken auslegen oder später, dann schon als Studenten an der Hochschule für Gestaltung in Offenbach, Stühle an Bäume schrauben, anzünden oder in der Erde vergraben. Immer geht es um das Hinterfragen von Realität und Konventionen sowie die Reaktionen der Passanten, die zum Publikum werden.
Filmtage erinnern an Tragödie
Im Jahr 1990 brachten sie als Gruppe „Cinema Concetta“ ihre bisherigen Werke unter dem Titel „Wunder der Wirklichkeit“ heraus. Laut der Aussage eines ehemaligen Professors setzten diese Kurzfilme neue Akzente, weil sie die handelnden Personen in den Mittelpunkt stellten.
Als groteske Kaffeefahrt im Flugzeug, bei der die Teilnehmer für den Kauf eines Luftschutzbunkers gewonnen werden sollten, thematisierte „Bunkerlow“ schließlich das Verlangen nach Sicherheit. Umso tragischer erscheint daher der Unfall, den die Unachtsamkeit des Piloten und des Filmteams laut Untersuchungsbericht mit verursachte.
Die Trauer verwandelte sich bei den Freunden und Zeitgenossen in kreative Produktivität: So wurden inzwischen eine Filmfördergesellschaft und die Rüsselsheimer Filmtage gegründet. Die eröffnen jedes Jahr mit einem anderen Film – von „Cinema Concetta“.
„Wunder der Wirklichkeit“
„Wunder der Wirklichkeit“ ist eine Dokumentation über das Leben und das gleichnamige Werk des Regisseurs, Malers und Aktionskünstlers Martin Kirchberger.
Kirchberger kam mit seiner Gruppe „Cinema Concetta“ am 22. Dezember 1991 bei einem Flugzeugabsturz auf dem Hohen Nistler in Handschuhsheim ums Leben.
Kirchbergers Freund und Kollege Thomas Frickel verarbeitete in seinem filmischen Porträt Archivmaterial und sprach mit Freunden und Angehörigen.
„Wunder der Wirklichkeit“ gewann 2017 den Hessischen Filmpreis und war jetzt erstmals im Karlstorkino zu sehen.
Der Hessische Rundfunk wird den Film noch ausstrahlen, Verhandlungen mit dem Südwestrundfunk stellte Thomas Frickel in Aussicht.
Weitere Termine im Karlstorkino sind bisher nicht benannt.
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