Krebsforschung

Anti-Krebs-Pille: „Das ist äußerst unseriös“

Ein US-Krankenhaus macht Hoffnung auf eine neue Tumortherapie mittels einer Anti-Krebs-Pille. Der Mediziner Nikolas Gunkel vom Deutschen Krebsforschungszentrum in Heidelberg dämpft jedoch die Erwartungen. Die Forschung stehe noch am Anfang

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Jede Krebsart ist eine eigene Erkrankung – deswegen gibt es bislang kein Mittel gegen den Krebs als solchen. © dpa

Anfang der Woche veröffentlichte das US-Krankenhaus City of Hope, spezialisiert auf die Behandlung von Tumorerkrankungen, Studienergebnisse zu einer möglichen neuen Therapie mit einem Molekül namens AOH1996. In einer Mitteilung ist von einer Pille die Rede, die Krebs stoppen könne und gesunde Zellen dabei unbeschadet lasse. Von einer Anti-Krebs-Pille gegen 70 Krebsarten war in deutschen Medien zu lesen. Nikolas Gunkel, einer von zwei Leitern der Arbeitsgruppe Wirkstoffforschung am Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ) in Heidelberg, hat sich die Studie angesehen.

Herr Gunkel, eine Anti-Krebs-Pille, die gegen 70 Krebsarten helfen soll. Das klingt bahnbrechend.

Nikolas Gunkel: Im Zusammenhang mit der Studie sind ein paar Worte gefallen, die ich extrem toxisch fand. Zum Beispiel wurde in der Pressemitteilung von City of Hope ganz bewusst das Wort Pille verwendet: „cancer-stopping pill“. Das ist äußerst unseriös, weil die Datenlage einen solchen Optimismus derzeit nicht hergibt.

Können Sie das erklären?

Gunkel: Weil es suggeriert, es gäbe die eine Tablette gegen den Krebs. Aber in der Krebsforschung ist das ganz große Problem, dass es praktisch nichts gibt, das gegen den Krebs als solchen wirkt. Jede Krebsart ist eine ganz eigene Erkrankung. Und bei den 70 Krebsarten hat jemand etwas missverstanden. Denn auch die gibt es nicht. Es sind bei der Studie 70 Krebszelllinien verwendet worden, die neun verschiedene Krebsarten repräsentieren. Jede dieser Krebszelllinien wurde aus dem Tumor eines Patienten gewonnen.

Sie haben sich die Studie angesehen. Abgesehen von einer missverständlichen oder falschen Kommunikation: Hat die Forschung Potenzial?

Gunkel: Es werden viele dieser frühen präklinischen Studien veröffentlicht. Und in praktisch jedem dieser Statements steht: Das ist die künftige Strategie zur Krebsbekämpfung. Aber präklinische Studien erlauben diese Art von Optimismus und Schlussfolgerungen nicht. Was nicht heißt, dass hier nicht vielleicht von Dingen berichtet wird, die in fünf, sechs Jahren zum Gamechanger werden könnten. Aber die meisten werden eben keine Gamechanger. Damit sage ich nicht, dass die Idee der Kollegen schlecht ist, sie ist aus biologischer Sicht sehr interessant. Ich sage nur, dass es noch keine Evidenz gibt, dass sie gut ist.

Wie funktioniert das Molekül AOH1996? Was macht es interessant?

Gunkel: Das Molekül hemmt das Protein PCNA. Dieses Protein wird sowohl in Krebszellen als auch in normalen Zellen hergestellt und spielt eine Rolle bei der Zellteilung. Die Autoren der Studie sind der Meinung, dass es einen Unterschied gibt zwischen dem PCNA in Krebszellen und jenem in Normalzellen.

Der Wirkstoffforscher

  • Dr. Nikolas Gunkel leitet zusammen mit Dr. Aubry Miller die Arbeitsgruppe Wirkstoffforschung am Deutschen Krebsforschungzentrum (DKFZ) in Heidelberg.
  • Gunkel schrieb seine Doktorarbeit an der Universität Oxford und arbeitete dann am European Molecular Biology Laboratory in Heidelberg.
  • Von 1997 bis 2012 war er in der industriellen Drug Discovery bei Aventis CropScience und MSD Animal Health tätig.

AOH1996 soll das PCNA in Krebszellen erkennen und gezielt attackieren? Gesunde Zellen bleiben verschont?

Gunkel: Das wäre ein idealer Zustand. Aber zwei Dinge sind mir aufgefallen: Eine Standardkrebszelle teilt sich ständig, sonst würde kein Tumor entstehen. Eine normale Zelle teilt sich deutlich seltener, das PCNA spielt hier also eine untergeordnete Rolle. Die Studienautoren unterscheiden aber nicht eindeutig, ob es nur eine größere Abhängigkeit der Krebszelle von diesem Protein gibt, weil es das Protein häufiger verwendet, oder ob es sich tatsächlich von dem in Normalzellen unterscheidet. Und jetzt eine zweite Sache: In einem Tumor teilen sich nicht alle Krebszellen gleich stark. Wenn ich also einen Therapiemechanismus habe, der die Zellteilung braucht, um zu wirken, dann bleiben immer Krebszellen übrig, weil sie sich eben nicht teilen. Diese Zellen, die es in jedem Tumor gibt, nennt man Tumorstammzellen. Das sind die Spielverderber für ganz viele Therapien. In der Studie finde ich keinen Hinweis darauf, dass das Molekül auch gegen Tumorstammzellen wirkt.

Sie haben eben die fehlende Evidenz erwähnt. In der Mitteilung von City of Hope heißt es, die Ergebnisse seien vielversprechend. Das stimmt nicht?

Gunkel: Das Mausmodell, das die Forscher in den USA verwendet haben, ist nicht besonders aussagekräftig. Denn die Mäuse waren immunsupprimiert, hatten also kein Immunsystem. Die Erkenntnisse daraus können deswegen nur ein erster Zwischenschritt, eine Annäherung sein. Außerdem war die Anti-Tumor-Aktivität in den Mausmodellen eher mäßig, in einem Modell, beim kleinzelligen Lungenkarzinom, geradezu schwach. Und es zeigte sich innerhalb der neun Krebsarten eine sehr heterogene Reaktion auf die Behandlung. Übersetzt man das in eine Vorhersage zur klinischen Wirksamkeit, bedeutet das, dass nicht alle Krebsarten oder Patienten gut ansprechen werden. Die Substanz wird nach Angaben der Klinik in einer Phase-1-Studie bereits am Menschen getestet.

Nach allem, was Sie sagen, klingt das sehr früh.

Gunkel: Ich halte es auch für zu früh. Aus einem wichtigen Grund: Aus den Studiendaten wird nicht klar, welche Krebsart besonders gut auf die neue Methode ansprechen wird. Ich muss aber die empfindlichste Krebsart identifizieren, um ein ausreichend großes therapeutisches Fenster zu haben. Therapeutisches Fenster heißt, ich kann mit einer Therapiedosis einen Tumor kontrollieren, ohne den Patienten dabei zu stark zu schädigen. Das muss man eigentlich über sogenannte Biomarker herausfinden. Und das fehlt in der Studie. Ich will nicht sagen, dass hier keine Biomarker gefunden werden können. Aber die Studie berücksichtigt diesen Aspekt nicht. Ich befürchte, dass diese neue Idee einfach verbrannt wird, weil die Chance für eine erfolgreiche klinische Phase-2-Studie ohne Biomarker sehr gering ist.

Bei all diesen Schwächen: Wie erklären Sie sich den Optimismus, der in der Mitteilung verbreitet wird?

Gunkel: Der Punkt ist wahrscheinlich: Wenn etwas so gehypt wird, stehen die Chancen besser, die nächste Million – und das ist bei der Forschung nicht viel – einzuwerben, um den nächsten Schritt zu gehen. Ich kenne die dortige Kostenstruktur nicht, aber ich denke, das, was die Forscher bislang gemacht haben, hat bereits ein paar Hunderttausend Dollar gekostet. Um die späteren präklinischen Studien in weiteren Versuchstieren zu machen, sprechen wir schon von 1,5 bis 2,5 Millionen Euro.

Aber wo kommt das Geld her ohne Enthusiasmus?

Gunkel: Ich muss aber die federführende Wissenschaftlerin Linda Malkas etwas in Schutz nehmen. Sie hat am Ende ihres Manuskripts eingestanden, dass präklinische Studien wie ihre durchaus nicht immer den späteren Erfolg beim Patienten vorhersagen. Die Verursacher für diesen Hype sind also am ehesten in der Pressestelle des Instituts zu finden.

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