Das EMBL gehört zu den Spitzeninstituten der lebenswissenschaftlichen Forschung weltweit. Matthias Hentze steht als Direktor gemeinsam mit Generaldirektorin Edith Heard an der Spitze - und freut sich auf ein weiteres spannendes Forschungsjahr, das besonders die Ökosysteme auf molekularer Ebene in den Blick nimmt.
Herr Professor Hentze, wie hat die Pandemie ihre Arbeit in den vergangenen 20 Monaten beeinflusst?
Matthias Hentze: Diese Pandemie wurde von einem Virus ausgelöst. Da ist das EMBL natürlich als führendes lebenswissenschaftliches Institut gefragt. Unsere Rolle ist es, schnellstmöglich Lösungen zu finden oder dabei behilflich zu sein. Am Europäischen Institut für Bioinformatik (EMBL-EBI) in Großbritannien, einem unserer Standorte, wurden sehr früh Datensammlungen bereitgestellt, die von Forschern weltweit genutzt werden konnten. Die lokale Zusammenarbeit mit Partnern wie der Universität und dem Universitätsklinikum Heidelberg sowie dem DKFZ war bedeutsam. Und unser Standort in Hamburg, welcher Strukturbiologie betreibt, arbeitete schon vor der Pandemie mit Biontech zusammen, was bei der Impfstoffentwicklung enorm geholfen hat.
Infos zu Matthias Hentze
- Matthias Werner Hentze (62) ist seit 2013 Direktor des Europäischen Laboratoriums für Molekularbiologie (EMBL) und Professor für Molekulare Medizin an der Universität Heidelberg.
- Geboren in Rheda-Wiedenbrück, studierte er Medizin in Münster, Southampton, Oxford, Glasgow und Cambridge.
- Gemeinsam mit Andreas Kulozik von der Medizinischen Fakultät der Uni Heidelberg gründete er 2002 die Molecular Medicine Partnership Unit (MMPU) und ist als deren Co-Director verantwortlich.
- Er ist verheiratet, hat drei Töchter und läuft in seiner Freizeit gerne Marathon.
Haben sich in der Pandemie diese Kontakte verstärkt?
Hentze: Das EMBL war schon immer ein ausgesprochen interaktives Institut. Ich gehe fest davon aus, dass auch viele der neu entstandenen Kontakte fortbestehen werden. Persönliche Meetings müssen immer noch meist virtuell stattfinden und wir haben gelernt, dass das gut geht. Nichtsdestotrotz freuen sich die meisten von uns bestimmt darauf, wenn sie wieder direkt miteinander in Kontakt treten können. Zur Wissenschaft gehört der Gedankenaustausch und das geht besser, wenn sich Personen gegenübersitzen.
Seit wann gibt es das EMBL und welche Ideen und Konzepte führten zur Gründung?
Hentze: Das EMBL gibt es seit 1974. In zwei Jahren dürfen wir unseren 50. Gründungstag feiern. Nach der Gründung waren wir erstmal in Heidelberg und in Hamburg aktiv. Später sind schrittweise die Standorte Grenoble, Hinxton, Rom und jüngst Barcelona hinzugekommen. Der Grundgedanke am Anfang war, dem Brain-Drain (Auswandern der Wissenschaftler nach der Promotion) Richtung USA entgegenzuwirken, wie wir es vor allem in den 1960er- und 1970er-Jahren gesehen haben. Es sollte eine Struktur geschaffen werden, die hochattraktiv für junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ist. Wissenschaftlerinnen standen zunächst leider noch weniger im Vordergrund, das hat sich mittlerweile richtigerweise geändert. Den Blick auf junge Forschende zu richten, war damals etwas Besonderes. Zu meiner Anfangszeit gab es noch diese Imperien und alten Ordinarien, die hierarchisch organisiert waren. In diesem System musste man sich als junger Wissenschaftler mitunter lange hochdienen, bevor man seine eigenen Ideen umsetzen konnte. Dank des EMBL gab es schon Ende der 1980er-Jahre Alternativen.
Welche Schwerpunkte setzt das EMBL - und welche in Heidelberg?
Hentze: Das EMBL formuliert alle fünf Jahre ein wissenschaftliches Programm mit Zielen. Unser Grundthema ist, Lebensprozesse aller Art grundlagenwissenschaftlich im Detail zu verstehen. Die übergeordnete Frage lautet, wie Leben auf molekularer Ebene funktioniert. Die Möglichkeit, hochkomplexe Datenmengen bearbeiten zu können, ergibt im Zusammenspiel mit der experimentellen Seite und zum Teil am EMBL entwickelten Technologien immer wieder neue Ansätze, weiter in die Tiefe und Komplexität von Lebensvorgängen einzudringen. Zum Jahresbeginn hat das EMBL ein Fünfjahresprogramm begonnen. Es heißt „Molecules to Ecosystems (Von Molekülen zu Ökosystemen)“ und ich glaube, der entscheidende Teil sind die Ökosysteme. Wir denken, dass es jetzt möglich ist, das Zusammenspiel unterschiedlicher Organismen, zu verstehen. Wie beeinflussen sie sich, positiv oder negativ? Wie nehmen das Klima oder die Verschmutzung der Umwelt Einfluss? Diese komplexen Fragen wollen und müssen wir auf molekularem Niveau angehen. Das wissenschaftliche Programm geht auch gesellschaftliche Notwendigkeiten an.
Wie intensiv ist ihr Labor mit der Erforschung von biologischen Aspekten des Coronavirus befasst?
Hentze: Sars-CoV-2 basiert auf einer Ribonukleinsäure, es ist ein RNA-Virus. Die Forschung meines eigenen Labors beschäftigt sich mit der Biologie von RNA. Speziell mit Eiweißen, die sich an RNAs binden und damit die Funktion beeinflussen. Bei einem Virus sind diese Eiweiße für dessen Vervielfältigung zuständig. Mein Labor hat seine Forschung zwar nicht umgestellt, um Sars-CoV-2 direkt zu erforschen. Wir haben aber unser Wissen den Forschungsgruppen zur Verfügung gestellt, die sich täglich mit dem Virus befassen. In Großbritannien wurden etwa Techniken angewandt, die wir entwickelt haben, um das Coronavirus in Zellen zu untersuchen.
Warum ist RNA so interessant?
Hentze: Viele Leute kennen ja die DNA oder Desoxyribonukleinsäure als unser Erbmaterial und den Speicher jeglicher biologischen Information. Damit sich beispielsweise das menschliche Genom, welches aus DNA besteht, überhaupt ausdrücken kann, muss es eine Sprache haben. Wir beschäftigen uns genau damit, wie Genome sich über RNA ausdrücken - im Zusammenspiel mit Eiweißen, die so gezielt Lebensprozesse steuern. Unser wichtigstes Forschungsergebnis der vergangenen zehn Jahre war die Beobachtung, dass die RNA auch die Funktion von Eiweißen verändern kann. Diesen Prozess haben wir Riboregulation genannt. Er spielt unter anderem im Zuckerstoffwechsel und somit bei Diabetes und auch Krebs eine sehr große Rolle. Unser Konzept der Riboregulation wird momentan von Laboren in der ganzen Welt aufgegriffen.
Welche Entwicklungen oder Entdeckung bezeichnen Sie als Ihre größten beruflichen Erfolge?
Hentze: Was mich zum EMBL gebracht hat, war die Entdeckung, dass Genkontrolle nicht nur im Zellkern passiert. Wir fanden erstmals heraus, dass diese auch die sogenannte reife Boten-RNA ansteuern kann, welche eine direkte Abschrift der DNA des Gens darstellt. Diese Entdeckung war Ende der 1980er-, Anfang der 1990er-Jahre recht unerwartet und hat das Forschungsfeld der RNA-basierten Regulation eröffnet. In der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre und in den frühen 2000er-Jahren haben wir dann die Prinzipien der Regulation von Genen auf RNA Niveau sehr genau erarbeitet. Jüngst haben wir dann die Welt aller Eiweiße entdeckt, die RNA binden. Da diese viel größer ist als erwartet, darf man sich das so vorstellen, als hätte man einen neuen Kontinent auf der Weltkugel entdeckt. Ein ganz wichtiges und oftmals unterbewertetes Thema sind aber nicht nur die wissenschaftlichen Ergebnisse, sondern auch, inwieweit ein Labor Menschen auf einen wissenschaftlichen Weg gebracht hat. Ich bin sehr glücklich, dass sehr viele derer, die bei uns im Labor geforscht haben, jetzt selbst sehr erfolgreiche Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen sind.
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