Anita war höchstens vier Jahre alt, als sie 1944 in die Heidelberger Uniklinik gebracht wurde. Wochenlang wurde sie dort untersucht – nicht zu ihrem eigenen Wohl, sondern im Dienste der von den Nazis verfolgten „Rassenhygiene“: Ärzte wollten herausfinden, welche geistigen Behinderungen angeboren waren, um so den „Fortpflanzungswert“ von Menschen zu ermitteln. Im selben Jahr wurden Anita und 20 weitere Kinder mit geistiger Behinderung in der Psychiatrie im hessischen Eichberg ermordet. Das sollte den Ärzten ermöglichen, auch die Gehirne der Kinder zu untersuchen.
Diese Verbrechen standen im Mittelpunkt einer Veranstaltung der Uniklinik und der Stadt Heidelberg am Samstag – dem jährlichen Gedenktag für die NS-Opfer. „Auch nach 80 Jahren erschüttert uns das Schicksal dieser Kinder“, sagte Oberbürgermeister Eckart Würzner bei der Gedenkfeier in der psychiatrischen Klinik. Als er zuvor am Mahnmal für die Kinder einen Kranz niedergelegt habe, sei ihm klar geworden, „über wen wir eigentlich sprechen“.
Viele Ärzte waren beteiligt
Auch an die ermordeten Juden, Sinti und Roma, und alle anderen NS-Opfer erinnerte Würzner. Heute müsse man lauter denn je „nie wieder“ sagen. Es seien in letzter Zeit „verstörende Sätze“ zu hören, etwa von AfD-Politiker Björn Höcke, der die schulische Inklusion von Kindern mit Behinderung als „Ideologieprojekt“ bezeichnet hatte. „Es ist genau die gleiche Wortwahl, die damals während des NS-Regimes auch verwendet worden ist“, sagte Würzner.
Für die Uniklinik sei die Erinnerung an die Patientenmorde „ein Gedenken, das weh tut“, sagte deren Vorstandsvorsitzender Ingo Augenrieth. Die beteiligten Ärzte hätten ihren Eid „mit Füßen getreten“. Dieses „dunkle Kapitel“ gehöre leider zur Geschichte der Uniklinik.
Den „Euthanasie“-Morden in der NS-Zeit fielen hunderttausende Menschen zum Opfer, die nach der NS-Rassenideologie als „lebensunwert“ eingestuft wurden, etwa wegen einer geistigen oder körperlichen Behinderung. Viele Ärzte waren an diesen Verbrechen beteiligt und befürworteten die „Rassenhygiene“-Ideologie – auch Carl Schneider, der die psychiatrische Klinik in Heidelberg von 1933 bis 1945 leitete.
Schneider „galt als einer der begabtesten Psychiater seiner Zeit“, berichtete die Marburger Medizinhistorikerin Maike Rotzoll. Er „war überzeugt von der Erbgesundheitspolitik des Nationalsozialismus“ und leitete das Forschungsprojekt, für das die 21 Kinder ermordet wurden. Sie waren vorher großteils in der Johannes-Diakonie in Mosbach untergebracht. Es sei erschütternd, dass auch kirchliche Einrichtungen in der NS-Zeit keine sicheren Orte für Menschen mit Behinderung waren, sagte Richard Lallathin, Pfarrer der Johannes-Diakonie.
Nach dem Krieg wurden die „Euthanasie“-Morde und die Mitwirkung von Ärzten lange verdrängt. „Die Medizin verstummte in der Scham über das eigene Verbrechen“, beschrieb Sabine Herpertz, Geschäftsführerin des Zentrums für psychosoziale Medizin, den Umgang mit dem Thema bis in die 1980er Jahre. Heutzutage, mahnte Herpertz, lege die Gesellschaft oft einseitig Wert auf intellektuelle Fähigkeiten. Dadurch bestehe die Gefahr, „den Wert von Menschen an ihre geistige Funktion und Leistungsfähigkeit zu binden.“
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