Bürstadt. Für Karl Hans Geil bleibt es eine Gratwanderung. „Eigentlich ist es ein Skandal, dass es so etwas gibt.“ In einem Sozialstaat sollte eine Tafel, die Lebensmittel an Bedürftige ausgibt, nicht nötig sein, findet der langjährige evangelische Pfarrer und Dekan im Ried. Doch nur, weil dieser Zustand nicht sein dürfte, komme es nicht in Frage, diese Menschen im Stich zu lassen. Geil hat vor mehr als 15 Jahren kräftig mitgeholfen, das Projekt Tafel anzuschieben und feiert im Bürstädter Bürgerhaus mit vielen geladenen Gästen, vor allem den ehrenamtlichen Helfern.
Rund 70 Engagierte kümmern sich darum, dass die Ausgabestelle zweimal die Woche Im Bildstock öffnen kann, um Waren zu verteilen. Wobei die Kunden zum Einkaufen Termine erhalten. Karl Hans Geil erinnert sich, wie dieses Konzept einst entstanden ist. „Wir hatten uns erst angeschaut, wie es bei anderen Tafeln läuft – und uns dann entschieden, es anders zu machen.“ Es sollte nicht zugehen wie im Supermarkt.
Die Helfer begleiten die Bedürftigen und gehen sicher, dass es gerecht zugeht und am Ende jeder etwas bekommt. „Dabei sind rasch Beziehungen entstanden, weil es in den Gesprächen schnell auch darum ging, wie man welches Gemüse zubereitet oder zu welchem Arzt man mit dem kranken Kind gehen kann“, erzählt der Lampertheimer.
Zu unbekanntem Gemüse wie Wirsing und Spargel gibt’s Tipps
Vom ersten Tag an hat Maria Glaser mitgeholfen – und nie aufgehört. „Das Miteinander“ ist für sie am schönsten. Damit meint die Bürstädterin die gute Stimmung im Team, aber auch den Kontakt zu den Kunden. Auch wenn das sprachlich öfter mal schwierig war. „Aber das geht alles, zur Not mit Händen und Füßen“, sagt sie und lacht. Vor allem mit der Flüchtlingswelle vor zehn Jahren seien viele Menschen gekommen, die auch kein Englisch verstanden – und so manches Gemüse nicht kannten. Bei Wirsing und Spargel haben die Helfer der Tafel erstmal erklärt, wie es gekocht wird, damit es schmeckt.
Ausgezeichnete Helfer
Die Bürstädter Tafel öffnete zum ersten Mal am 3. September 2010 , mit einigen wenigen ehrenamtlichen Helfern. Die Verantwortlichen der Diakonie rechneten zunächst mit rund 100 Kunden. Inzwischen, 15 Jahre später, unterstützt die Tafel Bürstadt mit rund 70 Helfern knapp 530 Menschen . Aktuell ist die Ausgabe in einer ehemaligen Metzgerei in der Straße Im Bildstock 79 zu finden.
Bei der Feier im Bürgerhaus ehrt die Regionale Diakonie Ehrenamtliche für ihr zehnjähriges Engagement : Maria Schmitt, Karin Raschke, Markus Minrath und Karl-Heinz Dellinger.
Seit 15 Jahren packen Maria Glaser, Bärbel Kilian und Dagmar Simon mit an. Sie tragen als Teamleiterinnen zudem noch besondere Verantwortung . Für „ihren herausragenden Einsatz“ zeichnet Landrat Christian Engelhardt die drei Frauen mit dem Landesehrenbrief aus. Erna Schöcker bekommt diesen nachträglich, weil sie nicht dabei sein konnte. Als Helferinnen sind zudem Monika Janson und Rita Bauer von Anfang an dabei.
Vier Tage in der Woche holen Fahrer Spenden ab. In der Ausgabe bereiten Helfer an zwei Tagen der Woche die Waren für die Ausgabe vor. Tafel-Koordinator Kim Orzol kommt angesichts dieses Engagements in 15 Jahren auf mehr als 200.000 Stunden ehrenamtlicher Arbeit . cos
Ans Aufhören denkt Maria Glaser noch lange nicht. 68 Jahre ist sie jetzt und weiß noch, dass sie vor 15 Jahren eine Aufgabe suchte, als die Kinder aus dem Haus waren. Den Stress der Arbeitswelt wollte sie sich nicht mehr antun. „Für mich war die Tafel genau das Richtige.“ So ist es geblieben. Auch wenn sie nicht mehr den kompletten Tag mithilft. Aber als Teamleiterin kommt sie jeden Freitagmorgen zum Vorbereiten. Wie gut das Team harmoniert, ist auch im Bürgerhaus zu spüren, wenn die vielen Helfer miteinander scherzen und erzählen.
Sofern nicht gerade feierliche Reden gehalten werden. So dankt Dennis Kramer als Leiter der Regionalen Diakonie, dem Träger der Tafel, den Ehrenamtlichen von Herzen. Dass deren Einsatz sowohl körperlich als auch psychisch anspruchsvoll ist, betont Katja Bernhard vom Vorstand der Tafeln in Hessen. Nicht nur sozial, sondern auch nachhaltig sei das Engagement, lobt Bürgermeister Boris Wenz (SPD). Immerhin helfen die Ehrenamtlichen ihren Kunden mit Lebensmitteln, die sonst möglicherweise entsorgt würden. Den göttlichen Segen erteilt Dekanin Sonja Mattes im Saal.
Frage nach neuem Standort für die Ausgabe noch offen
„Mir wurde gesagt, dass Sie richtig feiern wollen“, verrät Kim Orzol, der die Arbeit der Tafeln in Bürstadt, Lampertheim und Rimbach seit Anfang des Jahres koordiniert. Deshalb folgt nach den Ansprachen und Ehrungen Livemusik von Barbara Boll und Patrick Embach. Eine Sorge tritt bei all der guten Stimmung fast in den Hintergrund: Die Tafel sucht dringend neue Räume in Bürstadt. Am Bildstock fehlt Lagerfläche, zudem ist die Parksituation schwierig mitten im Wohngebiet.
Allen ist klar: Die Tafel bleibt auch in Zukunft wichtig. „Aber sie darf nie selbstverständlich werden“, mahnt Diakonie-Leiter Dennis Kramer. Denn nicht nur die Armut, sondern auch deren Ursachen müssten bekämpft werden. Fürs Team wiederum ist neben der Standortfrage wichtig, dass genug Helfer mit anpacken. Der Bedarf wird ja nicht weniger, sondern ist kontinuierlich gestiegen, zuletzt durch den Ukraine-Krieg.
Dass jemand dieses Angebot ausnutzen könnte, glaubt Maria Glaser indes nicht. „Die Leute müssen sich anmelden, ihre Berechtigung wird regelmäßig kontrolliert.“ Dabei schauen die Helfer, dass große Familien mehr bekommen als Alleinstehende. Wobei Senioren immer noch in der Unterzahl sind. „Die Hemmschwelle ist für viele ältere Menschen zu groß. Sie schämen sich. Aber was nützt einem das, wenn man nichts mehr zu essen auf dem Tisch hat?“
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