Bürstadt. So richtig nett scheint er nicht gewesen zu sein: Wenn Herbert Keilmann von Heinrich Ofenloch spricht, fallen ihm ganz andere Beschreibungen ein: Schwerenöter, Schluri, einer, der umherzieht und seine Frau mit den fünf Kindern im Stich lässt – und auch schnell mal zuschlägt. Kennengelernt hat er seinen Großvater allerdings nicht mehr. Der Bürstädter starb 1941 in der hessischen Tötungsanstalt Hadamar. Deshalb wünscht sich Keilmann auch einen Stolperstein für seinen Opa. „Es sollte an alle erinnern werden, die in der NS-Zeit ermordet worden sind.“
Poltische Gründe oder psychische Krankheit?
Sein Großvater war 36 Jahre alt, als er in der Gaskammer von Hadamar sterben musste. Ob aus politischen Gründen oder doch wegen einer psychischen Krankheit steht bis heute nicht fest. Keilmann hat unzählige Akten durchforstet, um nachvollziehen zu können, was damals passiert ist. „Inzwischen sehe ich klarer“, sagt der geborene Bürstädter, der heute in Buchen im Odenwald lebt. Alle Fragen sind aber nach wie vor nicht beantwortet.
Fest steht: Ofenloch kam mit einem größeren Transport am 15. Mai 1941 in Hadamar an. „Es gibt eine Liste mit allen Namen“, berichtet sein Enkel. Er geht davon aus, dass die Neuankömmlinge noch am gleichen Tag getötet wurden. „Das war so üblich“, hat er erfahren. Die heutige Gedenkstätte hat er vor einigen Jahren besucht – einschließlich der Gaskammer, in der sein Großvater sterben musste. Während der NS-Zeit wurden hier rund 15.000 Menschen ermordet, weil sie als behindert galten – ob geistig oder körperlich. Oder vielleicht einfach nur im Weg waren. Euthanasie nannten das die Nazis damals.
Warum genau der Bürstädter Opa auf der Todesliste landete, kann Keilmann nur vermuten. „Er war kein unbeschriebenes Blatt“, weiß er. Mit dem Gesetz sei der Großvater mehrfach in Konflikt geraten, aber eher wegen kleinerer Delikte. Nach einem Vorfall in einer Bürstädter Gaststätte wurde er 1936 zu einer zweijährigen Haftstraße verurteilt: Ofenloch war damals unvermittelt auf seinen Nebenmann losgegangen und versuchte, ihm die Kehle durchzuschneiden. „Der Stehkragen hat dem Mann das Leben gerettet“, zitiert Keilmann die Gerichtsakten. Dass die Vorwürfe stimmen, daran hat er mittlerweile keinerlei Zweifel. „Es gibt sehr viele Zeugenaussagen.“
Straflager für politische Gefangene in Zweibrücken
Sehr ungewöhnlich erscheint Keilmann allerdings, dass der Großvater in ein Strafgefangenenlager nach Zweibrücken kam. „Das war ein ganz neues Lager für politische Gefangene“, weiß er. Und auch, dass Heinrich Ofenloch Mitglied der KPD und „agitativ tätig“ war. Vielleicht der eigentliche Grund dafür, dass der Bürstädter in Zweibrücken einsaß und nicht im Darmstädter Gefängnis? Wie damals üblich, sei darüber im Protokoll zum Strafprozess nichts erwähnt worden.
Die zwei Jahre im Straflager endeten allerdings frühzeitig: 1938 wurde Ofenloch ins Philipps-Hospital in Goddelau bei Riedstadt verlegt. „Die Diagnose lautete paranoide Schizophrenie“, hat Keilmann aus der Strafakte erfahren. Also doch eine Geisteskrankheit? Oder nur ein vorgeschobener Grund, um den unbequemen Bürstädter endgültig loszuwerden? 1941 kam Ofenloch in die Landesheilanstalt Weilmünster. Damit war die Ermordung wohl endgültig beschlossen: Weilmünster galt damals als „Zwischenanstalt“ für Hadamar – wo Ofenloch dann am 15. Mai den Tod fand.
Wiedergutmachung für die Familie abgelehnt
Ofenlochs Frau Babette – „die Ofenloch-Oma“, wie sie später hieß – besuchte ihren Mann mehrfach, hat der Enkel erfahren. Auch wenn sich der Vater ihrer Kinder selten sehen ließ und noch seltener Geld brachte, sei sie über die brutalen Zustände dort schockiert gewesen. „Die Familie war sehr, sehr arm“, weiß Keilmann. Und dennoch habe die Großmutter auf eine Halbwaisenrente für ihre fünf Kinder verzichtet. „Sie ist genötigt worden, so steht es in der Wiedergutmachungsakte von damals.“
Fast 15 Jahre nach Kriegsende wird ihr Antrag auf Wiedergutmachung abgelehnt. Obwohl ihr Ehemann nachweislich in einem Tötungslager starb – „zu Tode gekommen“, wie Keilmann in den Unterlagen nachgelesen hat. „Das Wort ermordet wurde nie erwähnt.“ 1959 starb die Großmutter, erst im Jahr zuvor war Herbert Keilmann auf die Welt gekommen. „Gegen den Bescheid geklagt hat sie nie.“ Für Euthanasie – dem Beenden von Leben, das bei den Nazis als „unwert“ galt – habe noch lange Zeit später eine relativ große Akzeptanz gegeben, ist er sich sicher.
An der Geschichte des Großvaters „festgefressen“
Lange hat Herbert Keilmann vom Schicksal seines Großvaters gar nichts gewusst. Dass eine seiner drei Tanten, der Onkel und auch Keilmanns Mutter Nachforschungen angestrengt hatten, erfuhr er erst nach deren Tod. „Wir haben die Wohnung ausgeräumt“, erinnert er sich. Und danach habe er sich an dem Thema geradezu festgefressen.
Durch Zufall erfährt Keilmann von den Stolpersteinverlegungen in Bürstadt und nimmt Kontakt zu Burkhard Vetter auf. Der Bürstädter forscht seit Jahren über die Verfolgung jüdischer Familien in seiner Stadt und hat bereits mehrfach das Verlegen von Stolpersteinen initiiert. Im April soll auch Keilmanns Großvater einen solchen Gedenkstein erhalten – vor dem Wohnhaus der Familie in der Martinstraße 10. Für seinen Enkel ist sehr wichtig, dass an dieses große Unrecht erinnert wird. „Mein Opa war vielleicht kein guter Mensch. Aber er hat niemanden umgebracht.“
Gedenken in ganz Europa
Überall in Europa erinnern Stolpersteine an die Gräueltaten der Nazis – auch in Bürstadt . Diese Gedenksteine bestehen aus 96 mal 96 mal 100 Millimeter großen Messingplatten .
Sie werden vor Wohnhäusern angebracht, in denen Opfer des Nationalsozialismus zuletzt freiwillig lebten. Sie erinnern mit den einleitenden Worten „Hier wohnte“ an die verfolgten und ermordeten Menschen aus allen Bevölkerungsgruppen.
Initiator ist der Künstler Gunter Demnig , der die Idee zu den Stolpersteinen 1992/93 hatte. Er hat in Bürstadt bereits mehrere Steine verlegt. sbo
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