Bürstadt. Ateliers für Künstler, ein Yoga-Studio, Arbeitsplätze zum Mieten für Leute, die daheim kein Büro haben: Das alles stellt sich Rüdiger Engert in den beiden Hallen am Bahnübergang von Bürstadt in der Industriestraße vor: „Kultur am Übergang“, kurz KamÜ. „Aber nichts ist in Stein gemeißelt – ich bin offen für Vorschläge“, sagt er den Anwohnern in der Lagerhalle. Das Treffen haben die Freien Wähler in Bürstadt organisiert. Denn bevor es am Mittwoch, 9. Juni, in der Stadtverordnetenversammlung um eine Entscheidung über den Verkauf der Fläche an Engert geht, will die neue Fraktion die Stimmung der Bürger ausloten.
Viele Emotionen sind bei Engerts Lagerhallen in Verlängerung der Raiffeisenhallen im Spiel. Nicht nur aufseiten der Nachbarn, die unter dem Lärm in der Industriestraße leiden. Sondern auch bei Rüdiger Engert. Sein Großvater Peter Paul Engert hat die erste Halle 1957/58 an der Bahnlinie gebaut, um Sackware wie Düngemittel für den eigenen Landhandel (heute Agrarmarkt) zu lagern. Zehn Jahre später wurde eine zweite Halle angebaut. „Die Landwirte kamen mit ihrem Trecker angefahren und kippten ihr Getreide ab.“ Das sammelte sich im Keller und wurde über eine Fördereinrichtung nach oben transportiert. Der Drehrohrverteiler machte die markante Gaube im Dach nötig.
Rüdiger Engert erzählt, welche wertvollen Kindheitserinnerungen er damit verbindet. Zig Gespräche habe er dort mit Landwirten geführt, viel zugehört und gelernt. Abreißen – was sich die Nachbarn am liebsten wünschen – möchte er die Hallen auf keinen Fall. Seine Familie hätte das Grundstück längst gekauft, wenn das möglich gewesen wäre. Dann hätte Engert das Dach erneuert und mit einer Solaranlage bestückt. Doch bislang konnten sein Opa, Vater und er die Fläche nur pachten.
Nun stellt die Stadt ihm die Übernahme in Aussicht – für einen kulturellen Zweck auch zum vergünstigten Preis: Dafür hat Engert das Architekturbüro Yalla Yalla in Mannheim mit kreativen Entwürfen beauftragt. Diese sehen vor, die äußere Form zu belassen. Innen könnten Galerien und Arbeitsplätze entstehen – mit mobilen Baukörpern, die sich wieder verändern lassen. An ein Malstudio für Kinder denkt Engert oder Ausstellungen von Künstlern. „Bürstadt holt oft Leute von außen. Das brauchen wir gar nicht, es gibt hier spannende Menschen, die sich kulturell einbringen wollen“, betont er. Er wolle sie fördern.
„Ich bin weder ein Großinvestor, noch möchte ich Geld damit verdienen. Nur was ich hier reinstecke, muss sich tragen.“ Zuschüsse stehen bis Ende 2022 in Aussicht. „Ich plane seit zwei Jahren, und irgendwann läuft mir die Zeit davon.“ Die Entscheidung der Politik am Mittwoch sehnt er daher herbei. Er hätte sich schon früher einen Austausch mit den Gremien gewünscht. So stören ihn die Ampel und die Fahrradboxen am Übergang. „Wieso stellt man solche Kästen überhaupt auf? Wenn man mich gefragt hätte, hätten wir die Fahrräder hier in der Halle unterbringen können.“
Die Nase voll vom Lärm
Sein Ziel formuliert er so: „Das hier soll ein Gewinn für Bürstadt und die Bevölkerung sein.“ Eine Partyzone und wildes Treiben werde es nicht geben, versichert er. Allerdings denkt er über ein kleines Café und Eisverkauf nach, was bei den Anwohnern die Alarmglocken schrillen lässt. „Das sind super Pläne, aber für uns eine schreckliche Sache, wenn die Lebensqualität und die Gesundheit noch mehr darunter leiden“, wirft Anwohnerin Claudia Glück ein. Mit Gastronomie oder gar Tanzkursen im Yoga-Studio kann sie sich nicht anfreunden. Denn parken müssten die Besucher auch irgendwo. Stellplätze seien aber schon jetzt Mangelware, weil etliche Pendler ihre Autos im Wohngebiet abstellten. Engert zeigt Verständnis für den Stress der Anwohner. Er stellt in Aussicht, ganz in der Nähe 14 Parkplätze anlegen zu können.
„Wer hier lebt, hat die Nase voll von zusätzlichem Krach. Es ist schon unerträglich“, so Gudrun Schwarz-Brückmann, die auf der anderen Seite der Gleise lebt. Torsten Pfeil, Fraktionschef der Freien Wähler, versichert ihr und den Nachbarn: „Sie müssen auch eine Entlastung spüren.“ Das sei eine große Aufgabe und eng mit dem Verkehrsproblem verknüpft: Einig sind sich alle, dass keine Lastwagen mehr durch die Industriestraße poltern dürfen. „Die müssen über die Nordschleife zum Bibliser Pfad.“ Die Idee einer Einbahnstraße, die Franz Siegl (SPD) schon oft erklärt hat und es vor Ort wiederholt, begrüßen alle. Aber auch unter dem Piepsen und Klackern sowie den Lautsprecherdurchsagen am Bahnhof leiden die Anwohner.
Gegen Ende bewegen sich die Nachbarn doch auf Engert zu: Sofern sich die Gesamtsituation in der Straße verbessert, könnten sie mit KamÜ leben. „Aber mehr Lärm ertragen wir auf keinen Fall“, sagt Claudia Glück. Die Halle werde gedämmt, auch um es innen ruhig zu haben, verspricht Engert. Dass die Besucher ihren Cappuccino draußen trinken, lehnen die Anwohner jedoch ab.
Torsten Pfeil verspricht, bald wiederzukommen: Wenn es um die restlichen Hallen auf dem Raiffeisenareal geht, möchte er erneut die Meinung der Anwohner hören.
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