Bürstadt. Prominenter Besuch in Bürstadt beim Kreisverband der Arbeiterwohlfahrt (Awo): Michael Groß ist gekommen, um über Armut zu sprechen. Es handelt sich allerdings nicht um den berühmten Schwimmer, sondern um den Präsidenten des Sozialverbands. Sportlich-kumpelhaft gibt er sich aber auch und duzt alle aus der „Awo-Familie“. Mehr von ihren Erfahrungen aus ihrem Alltag mit Betroffenen möchte der frühere SPD-Bundestagsabgeordnete hören. Denn die Zahlen aus Berechnungen kennt er. Armut drohe angesichts der hohen Preise immer mehr Menschen – zunehmend Rentnern und Familien.
„Drei Millionen Kinder leben in Armut oder an der Grenze“, sagt Groß. „Wer einmal arm ist, bleibt meist arm.“ Der Aufstieg gelinge nur ganz selten, deshalb fürchtet er, „dass eine ganze Generation verloren geht“. Das dürfe aber nicht sein: „Jedes Kind hat ein Anrecht auf Förderung.“ Daher verlangt er viel mehr als die Aufstockung des Bürgergeldes, zuvor Hartz IV, um 50 Euro. Neben einem festen Grundeinkommen von 399 Euro sollten weitere 300 Euro in die Infrastruktur – Betreuung sowie Jugendarbeit – fließen, fordert Groß.
In der Not bleibt der Fernseher aus
Wie dramatisch die Situation in vielen Familien aussieht, weiß Nicole Hascher. Sie arbeitet in der Kinder- und Jugendhilfe der Awo und ist im ganzen Kreis Bergstraße unterwegs. „Viele Familien sind schon lange am Limit.“ Die hohen Strompreise bereiten ihr sowie ihrer Kollegin Melanie Schilling von der Schuldnerberatung gerade besonders große Sorgen: „Auf einmal soll ein Haushalt das Doppelte zahlen, dazu kommen oft Raten für die Abschlagzahlungen.“ Wie sollen sie das stemmen? Schilling weiß es selbst nicht. „Diese Menschen konnten und können nichts ansparen. Jetzt haben sie Angst, dass ihnen der Strom abgestellt wird. Dann setzen sie lieber die Miete aus.“ Am Ende könnten sie noch ihre Wohnung verlieren. Ein Teufelskreis.
Awo-Präsident Groß berichtet von Personen, die ihren Fernseher nicht mehr einschalten, um Strom zu sparen. „Die Leute wohnen ja in schlecht isolierten Räumen und haben keine Chance, Energie zu sparen.“ Wie das erst im Winter werden soll, ist ihnen allen ein Rätsel. „Dafür muss die Politik eine Lösung finden“, fordert Schuldnerberaterin Schilling. Sie sieht ihre Aufgabe eigentlich darin, ihre Kunden zu entschulden. „Die Leute wenden sich oft erst dann an uns, wenn das Kind schon in den Brunnen gefallen ist“, erzählt sie. „Sie schämen sich und versuchen lange, ihren Verpflichtungen nachzukommen – selbst wenn sie unters Existenzminimum rutschen.“ Mit ihren Kollegen leiste sie viel Aufklärungsarbeit, stelle Anträge und versuche, ihnen Ängste zu nehmen – etwa vor Inhaftierung.
Kostendruck beim Jugendamt
Problematisch sei in Zeiten von Corona auch die schlechte Erreichbarkeit von Ämtern, betonen Schilling wie Hascher. Und manche Anträge auf zusätzliche Leistungen könnten selbst sie kaum ausfüllen, weil sie so kompliziert sind. Hinzu kommt laut Sebastian Parker, Geschäftsführer des Awo-Kreisverbands Bergstraße, dass das Jugendamt unter enormem Kostendruck steht. „Da werden Entscheidungen auch mal hinausgezögert, anstatt Unterstützung zu bewilligen. Und dann droht die Gefährdung“, kritisiert er. Außerdem fehle überall Personal: Kürzlich suchte Hascher dringend einen Platz in einer Wohngruppe – vergeblich. Auf psychotherapeutische Hilfe müssten ihre Klienten ein Dreivierteljahr warten. „Dann verschärft sich natürlich oft die Situation.“
Parker sagt: „Hier rufen Leute aus Bremen an und fragen, ob es bei uns im Kreis Platz in einer Wohngruppe gibt!“ Er schüttelt den Kopf. Soziale Arbeit müsse allen im Land viel mehr Wert sein. Für andere Dinge sei ja auch Geld da. Als Beispiel nennt Groß die Summe von 100 Milliarden für die Bundeswehr. „Aber wir haben immer mehr Menschen, die wir unterstützen müssen. Und eines ist klar: Prophylaxe ist immer günstiger, als nachher die Schäden zu zahlen.“
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