Speyer. Robert Menasse ist überzeugter Europäer, obwohl er die systemischen Schwächen und die inneren Befindlichkeiten des Konstruktes Europa gut kennt. Nach seinem erfolgreichen Roman über „Die Hauptstadt“, 2017 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet, hat er unter dem Titel „Die Erweiterung“ einen zweiten Europa-Roman vorgelegt, der sich mit Beitrittskandidaten zur Europäischen Union beschäftigt.
Während er sich in der „Hauptstadt“ auf die Brüsseler Institutionen konzentrierte, geht es in der „Erweiterung“ um das Größerwerden der Europäischen Union. „An den Rändern Europas gibt es viele Menschen, die sich sehnlichst eine Aufnahme in die Union wüschen“, sagt Menasse. In Staaten wie Albanien gewinnen Politiker Wahlen mit dem Versprechen, ihr Land in die EU zu führen, während in EU-Staaten Politiker Zugewinne erzielen, wenn sie sich besonders EU-kritisch geben. Das findet Menasse „bezeichnend für den Zustand Europas“. Genau diese Dialektik habe ihn dazu bewogen, einen zweiten Europaroman zu schreiben, verrät er beim Literaturgespräch dem Speyerer Publikum.
Einfluss der EU-Erweiterung auf politische Landschaften
Eingeladen ins Haus Trinitatis-Brilliant Spaces hat der Verein „Literatur und Musik“ – passend zur anstehenden Europawahl. Bereits zu Beginn des literarischen Gesprächs überrascht der österreichische Erfolgsautor, indem er sein Handy zückt, um ein Foto vom Publikum zu schießen. Er habe eine Facebook-Seite und wisse nie, welche Posts er dort machen solle. Da liegt es doch nahe, das qualifizierte Publikum seiner Lesungen zu fotografieren und ins Netz zu stellen. Mit einem Augenzwinkern bedankt er sich dann noch für spontan erteilte Bildrechte.
Moderiert wird der Abend von Mustafa Al-Slaiman. Der Speyerer Musiker und Komponist Bernhard Sperrfechter lässt sich souverän auf den musikalischen Dialog mit Menasse ein: Mit freien Improvisationen auf der Gitarre nähert auch er sich dem Thema Europa, wobei sein Musikstück „Vögel“ nach Auffassung von Menasse durchaus den Titel „Europaparlament“ verdient hätte.
Gefragt nach der Recherchearbeit für seinen zweiten Europa-Roman, antwortet der Autor, er habe bewusst Schauplätze an der Peripherie Europas gesucht, und sei nach Besuchen verschiedener Balkanländer „in Albanien hängen geblieben“. In der europäischen Geschichte sei der Balkan aus vielen Gründen schon immer ein Pulverfass und Albanien das „schwarze Loch“ Europas gewesen. Mit Fahrer und Dolmetscher ist er längere Zeit durchs Land gereist, um mit den Menschen in Kontakt zu kommen und deren Träumen und Sehnsüchten nachzuspüren. Die Erfahrungen, die er in vielen persönlichen Begegnungen und Gesprächen vor Ort gemacht hat, sind dann in den Roman eingeflossen. „Wenn jemand den Balkan befrieden kann, dann ist es das Projekt Europa“, gibt sich Menasse überzeugt.
Perspektiven auf Europaerweiterung im neuen Menasse-Roman
Die Handlung des Romans kreist um zwei „Blutsbrüder“, die durch einen Schwur, den sie im polnischen Untergrundkampf der Gewerkschaft Solidarnosc gegen das kommunistische Regime geleistet haben, verbunden waren. Nach dem Zusammenbruch des Warschauer Paktes gehen sie jedoch sehr unterschiedliche Wege. Adam macht, kaum ist Polen der EU beigetreten, Karriere in der Europäischen Kommission. Er treibt die Erweiterungspläne der Gemeinschaft voran, während Mateusz zum polnischen Ministerpräsidenten aufsteigt und nicht nur die Aufnahme weiterer Kandidaten torpediert, sondern auch die Freiheitsrechte im eigenen Land einschränkt. Menasse beschreibt dabei unterhaltsam und präzise die inneren Kontroversen aktueller EU-Politik. Die vielbeschworenen europäischen Werte werden in jenen Staaten, die der EU beitreten wollen, oft engagierter umgesetzt als in einigen Mitgliedsländern, die um ihre Zuschüsse fürchten und sich gleichzeitig wieder nationalstaatlichem Gedankengut annähern.
Auszeichnungen und Lesungen: Menasses Europa-Engagement
Menasses Roman „Die Erweiterung“ wurde vielfach ausgezeichnet. Er gewann den Prix du livre européen 2023, den Bruno-Kreisky-Preis für das politische Buch 2022, stand auf der Shortlist des Österreichischen Buchpreises 2022, auf Platz eins der ORF-Bestenliste und auf der SWR-Bestenliste.
Skanderbeg und Europas Vergessene Geschichten
Mit zwei Lesestücken aus der „Erweiterung“, die er dem Speyerer Publikum mit ausgeprägtem Wiener Charme präsentiert, macht er deutlich, dass er nicht nur ein virtuoser Erzähler ist, sondern auch schauspielerisches Talent mitbringt und begnadeter Interpret seiner eigenen Texte ist. Dabei sorgen die vorgetragenen Passagen über den albanischen Volkshelden Skanderbeg im Prolog des Romans für viele Lacher im Publikum. Der Nachruhm dieses damals europäisch agierenden Feldherrn aus Albanien, der im 15. Jahrhundert als Beschützer des Christentums gegen die Osmanen galt, hat nachweislich Spuren hinterlassen, zum Beispiel in der Vivaldi-Oper „Skanderbeg“. Darüber hinaus gibt es in London, Brüssel und Rom Statuen des adligen Kriegers; in Tirana ist ihm ein Reiterdenkmal auf dem Hauptplatz der Stadt gewidmet. Mit der späteren Ausbildung von Nationalstaaten verliert er jedoch seine Bedeutung und gerät in Vergessenheit.
Im Wiener Kunsthistorischen Museum gehen heute viele achtlos an einem ihm zugeschriebenen Helm vorbei, der ziemlich skurril anmutet. Auf dem Scheitel ist ein Ziegenkopf aus vergoldeter Bronze montiert. Mit diesem Prolog über Skanderbeg gelingt Menasse ein unterhaltsamer Auftakt für seinen Roman. Man könnte ihm stundenlang zuhören, wenn er solche Geschichten erzählt.
Schade nur, dass trotz ursprünglicher Ankündigung keine Zeit bleibt, um über das jüngste, erst vor wenigen Tagen erschienene Essay von Menasse „Die Welt von Morgen. Ein souveränes demokratisches Europa und seine Feinde“ zu sprechen, in dem er über die Zukunft der Europäischen Union reflektiert. Die massive Bedrohung durch rechtsnationale Parteien bei der anstehenden Europawahl und die damit einhergehende Renationalisierung vielen Mitgliedsstaaten treibt ihn um.
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