Speyer. Öffentliche Auftritte hatten während der Corona-Pandemie zu unterbleiben. Das war das Gründungsmoment für das Ensemble „Berlin 21 – Streetworkers“. Im Stadtbezirk Moabit und Tiergarten gingen die Musiker auf die Straße, um ihr Handwerk nicht zu verlernen. In Speyer eröffneten die vier jetzt die Konzertreihe „Jazz im Rathaushof“. So viel ist sicher: Die Zwangspause hat ihnen nicht geschadet.
Funkige Boogie-Rhythmen und solistische Improvisationen, die sie sich einander zuwerfen, perkussive Drums und ein genreübergreifender Stil aus Jazz und Pop prägen die Eigenarrangements von „Berlin 21“. Auch auf gecoverte Stücke wie „Cold Duck Time“ von Les McCann erlaubt sich das Quartett einen eigenen Zugriff. Lionel Haas (Klavier), Alexey Wagner (Gitarre), Martin Lillich (Bass) und Torsten Zwingenberger (Schlagzeug) geben sich keinesfalls mit der routinierten Rolle von Reproduzenten zufrieden; was sie tun, hat stets eine persönliche Note.
Alexey Wagner kann seine E-Gitarre rockig kreischen lassen oder die Saiten locker anzupfen. Martin Lillich ist ein impulsiver Bassist mit viel Gefühl für Swing und Torsten Zwingenberger ein Schlagzeuger, der zwischendurch subtile Rhythmen beisteuert. Lionel Haas webt am Klavier komplexe Klangteppiche und zeigt sich bei hohen Tempi harmoniesicher. Die „Streetworker“ liefern solides Handwerk ab. Stilistische Vielfalt und ein Soundkonzept, das auf ein amüsierfreudiges Publikum zugeschnitten ist, sind Trümpfe, die im Rathaushof stechen.
Ganz im Sinn von Bernhard Sperrfechter, dem Künstlerischen Leiter der Konzertreihe, die sich nicht als Bühne für abstrakten Avantgarde-Jazz versteht. Gleichwohl will sich der Rathaushof auch für jüngere Ensembles und moderne Stilistiken öffnen, betont Sperrfechter im Gespräch. Der Leiter des Kulturfachbereichs der Stadt, Matthias Nowack, pflichtet bei: Nicht die Begrenzung, sondern das freie Spiel der Möglichkeiten mache die Attraktivität der Konzertreihe aus.
Im vergangenen Jahr hatte das Jazz-Festival pandemiebedingt in den Paradiesgarten der Dreifaltigkeitskirche ziehen müssen. Nur ein Anwohner fand die Idee wenig paradiesisch und beschwerte sich über die allabendliche lautstarke Stimmung. Nowack bekräftigt: „Der Jazz gehört in den Rathaushof.“
Tamir Cohen animiert zum Tanzen
Dort fühlt sich im übrigen auch Tamir Cohen wohl. Der aus Israel stammende Sänger kommt beim Speyerer Publikum durch seine offene und temperamentvolle Art an. Vor allem die Songs von Stevie Wonder haben es ihm angetan. Bei „Isn’t she lovely“ oder „Superstition“ scheint Cohen die künstlerische Identität des Originals anzunehmen. Die Songs klingen authentisch. Obendrein ist der Sänger der geborene Animateur. Das Speyerer Publikum lässt sich nicht lange bitten: Beim funkigen „Ain’t nobody“ von Chaka Khan wird eine kleine Tanzbühne eröffnet.
Mögen beim Song von Paul Simon „Late in the evening“ auch die Bläser fehlen, so liefert Torsten Zwingenberg dafür ein fulminantes Schlagzeugsolo. Und mit „Moody’s Mood“ von George Benson und Patti Austin entpuppen sich die Berliner Straßenarbeiter immer mehr als Stimmungs- und Partyband. Zeit für den Höhepunkt des Abends: Tamier Cohens Interpretation des Hits „Greatest love of all“ von Whitney Houston, mit dem er bei einer Castingshow die gesamte Jury beeindruckt haben soll.
Mit dem rhythmisch vertrackten „Spain“ von Gesangsakrobat Al Jarreau, in das Lionel Haas ein fantastisches Klaviersolo streut, liefert Cohen ein echtes Kabinettstückchen ab. Und wer meinte, mit dem nachdenklichen Song „Fragile“ von Sting sei im Rathaushof Schluss, hat sich getäuscht: Denn da kommt noch der Funkklassiker „I feel good“ von James Brown, der das historische Ambiente des Speyerer Rathaushofs endgültig in eine schwüle Disco verwandelt. Kaum vorstellbar, was Tamir Cohen aus dem kirchlichen Paradiesgarten einen Steinwurf weiter gemacht hätte . . .
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