Mannheim. Bevor ich Kinder hatte, in grauer Vorzeit, da dachte ich, mein Leben würde auch mit Kindern einfach so weiterlaufen. Arbeiten, Reisen, ab und zu Essen gehen, Freunde treffen, den Haushalt im Griff haben. Denkste. Ich war nicht darauf vorbereitet, wie sehr sich das Leben verändert, wie sehr man mit Kind in eine Parallelwelt geworfen wird – und vor allem wie sehr einen dieses permanente Gefühl begleitet, mit Kindern zu stören. „Wir sind hier nicht willkommen“, ständig und überall im Hinterkopf.
Im Restaurant zum Beispiel. Sind die Kinder einmal lauter als normal, gibt es hochgezogene Augenbrauen oder dumme Sprüche. Wenn es denn überhaupt einen Platz gibt und man nicht sofort an der Tür abgewiesen wird. In der Bahn zum Beispiel. Wo es ein Kleinkindabteil im ganzen ICE gibt und einen Wickeltisch auf der Behindertentoilette, die man auch erstmal suchen muss. Ganz abgesehen von den fehlenden Möglichkeiten, einen Kinderwagen im Zug zu parken. Auf der Straße zum Beispiel. Wenn der Nachbar meckert, weil die Kinder mit Kreide den asphaltierten Fußweg vor seinem Haus angemalt haben und ständig „Ruhestörung“ aus dem Fenster ruft, wenn in der Straße (eine Spielstraße wohlgemerkt) gespielt wird.
Ungleichheit, Rechte und Geld
Kinderfeindlichkeit begegnet einem eigentlich überall. Im Mietrecht beispielsweise. Egal, ob alle Mieter einverstanden sind, wenn die Hausverwaltung aus „optischen Gründen“ kein Trampolin oder keine Sandkiste auf dem Gemeinschaftsgrundstück haben will, dann kommt sie damit durch. Wenn nur ein Eigentümer einer Eigentümergemeinschaft dagegen ist, dass auf dem Rasen zwischen den Gebäuden Fußball gespielt wird, darf da nicht gespielt werden, auch wenn 100 andere Eigentümer dafür sind.
Nathalie Klüver
- Als Mutter von drei Kindern im Alter von vier bis elf Jahren kennt die Journalistin Nathalie Klüver die Herausforderungen des Familienalltags. Sie schreibt auf ihrem Blog ganznormalemama.com und in ihren Büchern über Vereinbarkeit und Familienpolitik.
- In ihrem neuen Buch „Deutschland, ein kinderfeindliches Land? Worunter Familien leiden und was sich ändern muss“, erschienen im Kösel Verlag, schreibt sie nicht nur darüber, was schief läuft und wie sich Familien fühlen, sondern stellt auch konkrete Forderungen an Politik und Gesellschaft auf.
Im Steuerrecht ist sie ebenfalls zu finden, die Kinderfeindlichkeit. Wenn Kaviar zu Waren des täglichen Bedarfs zählt und mit sieben Prozent Mehrwertsteuer besteuert wird, Babybrei in Gläschen aber mit 19 Prozent. Wenn Arbeitnehmer ihre Fortbildungskosten und Büromaterialien, ja sogar die Wege, um Büromaterialien zu kaufen, von der Steuer absetzen können, Eltern aber keine Möglichkeiten finden, die Schulmaterialien für ihre Kinder abzusetzen. Wenn das Ehegattensplitting als familienpolitische Maßnahme gilt, aber 41 Prozent derer, die davon profitieren, kinderlos sind oder erwachsene Kinder haben und sämtliche Alleinerziehende sowieso nicht davon profitieren.
Im Rentenrecht ist sie ebenfalls zu finden, die Kinderfeindlichkeit. Denn Eltern müssen doppelt zahlen. Für die Renten der jetzigen Rentner und für das Großziehen ihrer Kinder (das, so hat das Statistische Bundesamt ausgerechnet, bis zum 18. Lebensjahr mehr als 180 000 Euro kostet) – und diese Kinder sind auch die Rentenzahler der heute Kinderlosen.
Kinder brauchen eine Lobby
Im Wahlrecht begegnet sie einem auch, die Benachteiligung von Familien. Bei der Bundestagswahl 2021, waren fast zwei Drittel aller Wahlberechtigten älter als 50, 21 Prozent gar älter als 70 Jahre. Ganze drei Prozent waren zwischen 18 und 20 Jahre alt. Deutlicher machen es vielleicht noch die absoluten Zahlen: 12,8 Millionen Wahlberechtigte waren über 70 Jahre alt. Aber 13,75 Millionen Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren hatten kein Stimmrecht. Einfach nur, weil sie zu jung waren. Und ein Blick auf die Alterspyramide zeigt, dass sich dieses Verhältnis noch weiter verschieben wird. 2040 werden voraussichtlich 45 Prozent der Wahlberechtigten über 60 Jahre alt sein. Was das bedeutet? Nun, Politiker wollen wiedergewählt werden. Und für wen macht man Politik, wenn das Gros der Wähler über 60 Jahre alt ist und nur drei Prozent unter 20 Jahre? Es liegt auf der Hand: Kinder haben keine Lobby.
Aber Kinder brauchen eine Lobby, sie müssen gehört werden, sie brauchen Möglichkeiten, sich zu artikulieren, auszuprobieren, zu entfalten. „Kinder sind unsere Zukunft“ ist mehr als ein abgedroschener Spruch, es ist schlicht und einfach die Wahrheit. Denn unsere Kinder sind das Fundament der Gesellschaft. Sie sind es, die einmal über unsere Geschicke entscheiden werden, sie sind es, die einmal unsere Renten zahlen, sich um uns kümmern, die Innovationen erfinden, die für Fortschritt sorgen und das Klima schützen.
Wir brauchen eine kinderfreundlichere Gesellschaft und Politik – denn nur so können wir den Herausforderungen der Zukunft begegnen. Eine moderne Gesellschaft muss kinderfreundlich sein, denn sie ist moderner, nachhaltiger und gerechter, nimmt mehr Rücksicht auf Schwächere und setzt sich für die Zukunft ein. Davon profitieren letztlich alle. Doch ein echter gesellschaftlicher Wandel ist nur zu erreichen, wenn sich das Bewusstsein in der Bevölkerung ändert und gleichzeitig die politischen und rechtlichen Rahmenbedingungen angepasst werden.
Was wir dafür benötigen?Folgende zehn Punkte:
Die Kinderrechte müssen im Grundgesetz mit dem Zusatz „vorrangig“ verankert werden, so dass die Kinderrechte bei allen politischen Entscheidungen berücksichtigt werden müssen.
Ein Wahlrecht ab 16 Jahren für alle Wahlen sollte als erster Schritt eingeführt werden, um der jüngeren Bevölkerung mehr Gewicht in der Politik zu ermöglichen. Eine weitere Absenkung des Wahlalters danach ist nötig.
Sämtliche politische Entscheidungen müssen auf ihre Auswirkungen auf Kinder überprüft werden – dabei darf kein Bereich ausgeklammert werden.
Familien müssen dringend finanziell entlastet werden: Hierfür bedarf es einen Umbau des Steuersystems, einer Abschaffung des Ehegattensplittings sowie einen ermäßigten Steuersatz auf Produkte, die für Kinder notwendig sind wie Windeln oder Kinderwagen.
Um für mehr Chancengerechtigkeit zu sorgen, müssen kulturelle und sportliche Angebote kostenfrei sein und bestenfalls in den Schulen oder Kindergärten angeboten werden, um möglichst niedrigschwellig zu sein.
Kinderarmut ist ein immer größer werdendes Problem, das diese Chancengerechtigkeit verhindert, und muss deshalb mit allen Anstrengungen bekämpft werden.
Auch die Partizipation von Kindern und Jugendlichen muss konsequent ermöglicht werden: Sie sollten als Experten für ihre Belange von Politikern in den entsprechenden Ausschüssen angehört werden, auch Jugendparlamente müssen gestärkt werden.
Wenn der öffentliche Raum kinderfreundlich gestaltet wird, es Spielmöglichkeiten und Verweilmöglichkeiten gibt, mehr Sicherheit im Straßenverkehr, profitieren alle davon.
Eine kinderfreundliche Gesellschaft zeichnet sich auch durch eine kinderfreundliche Arbeitswelt aus: Wir brauchen eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie durch zum Beispiel bessere Kinderbetreuungsmöglichkeiten und ein unkompliziertes Recht auf Rückkehr in einen Vollzeitjob.
Neben all den politischen und rechtlichen Änderungen benötigen wir ein neues soziales Miteinander, das Rücksicht auf Schwächere nimmt und abrückt vom Leistungsgedanken. Jeder von uns kann heute damit beginnen – ein Lächeln ist nur der Anfang.
Nur wenn wir uns füreinander statt gegeneinander einsetzen, zusammenhalten und Schwächere fördern, schaffen wir es, dass niemand zurückgelassen wird. Dazu gehört auch, keine Lebensmodelle und -entwürfe gegeneinander auszuspielen. Lasst uns zusammen Platz machen für die Kinder und ihnen das offene Ohr geben, das sie brauchen. Es ist eine Aufgabe für uns alle, für die gesamte Gesellschaft. Dazu gehört auch, dass wir unser Handeln auf die Zukunft ausrichten. Eine „Nach-uns-die-Sintflut-Mentalität“, diesen Egoismus haben unsere Kinder nicht verdient. Wir sind es unseren Kindern schuldig, die Herausforderungen der Zukunft nicht so lange zu vertagen, bis es zu spät ist. Es ist an der Zeit, dass die Zukunft unserer Kinder mehr Platz in unserem Jetzt bekommt.
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