Rhein-Neckar. „Wenn es ganz schlimm wird, soll er ins Krankenhaus.“ Diesen Satz, sagt der Reilinger Hausarzt Michael Eckstein, höre er „fast täglich“ als Antwort, wenn er bei Fachärzten vergeblich nach Terminen für Patienten frage, die dort nicht sofort, aber doch recht bald vorstellig werden sollten. Geht es nach den Zahlen der kassenärztlichen Bedarfsplanung, sollte Terminmangel in den Praxen der Region selten sein. „Region“ heißt: Mannheim, Heidelberg, Ludwigshafen, Speyer und Frankenthal, außerdem die Rhein-Neckar- und Rhein-Pfalz-Kreise. Hier beträgt der Versorgungsgrad in den meisten Fachrichtungen mehr als 100 Prozent, oft liegt er deutlich höher. Hört man sich bei Ärzten um, zeigt sich dennoch eine angespannte Lage.
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Eckstein zufolge betrifft der Ärztemangel in Mannheim und Umgebung „bereits fast alle Fachgebiete“. Bei den Orthopäden und Chirurgen sehe es noch relativ gut aus, besonders kritisch sei es dagegen bei Kinderärzten und Psychotherapeuten, rund um Hockenheim auch bei Gynäkologen. Ähnlich sieht es der Heidelberger Hautarzt Benjamin Durani, der zum Vorstand der dortigen Ärzteschaft gehört: „Im Rhein-Neckar-Kreis wird es mit zunehmendem Abstand von Heidelberg in fast allen Bereichen eng.“ Es fehle besonders an Haus- und Kinderärzten, Kinder- und Jugendpsychotherapeuten. „Aber auch bei den meisten anderen Fachärzten sind kurzfristige Termine nicht einfach zu bekommen.“ Selbst in Heidelberg, wo Durani die Versorgung als „insgesamt noch ausreichend“ beurteilt, seien einige Fachgebiete betroffen.
Mit den offiziellen Zahlen scheint das kaum zusammenzupassen. Da finden sich teils üppige Versorgungsgrade – etwa 129 Prozent für Kinderärzte im Rhein-Neckar-Kreis oder gar 358 Prozent für Psychotherapeuten in Heidelberg. Ab 110 Prozent gilt eine Gegend als überversorgt. Auf der badischen Seite der Region fällt lediglich die Versorgung mit Hausärzten in den Mittelbereichen Schwetzingen (101 Prozent), Eberbach (90 Prozent) und Sinsheim (99 Prozent) deutlich unter diese Schwelle. Für Rheinland-Pfalz stammen die letzten öffentlichen Zahlen aus dem Jahr 2022. Deutlich von der Überversorgung entfernt lagen bei den Hausärzten die Mittelbereiche Frankenthal (91 Prozent) und Speyer (98 Prozent). Bei den Fachärzten galt dies lediglich für Augen- (98 Prozent) und Kinderärzte (95 Prozent) in Ludwigshafen.
Diese Versorgungszahlen können, wenn überhaupt, nur einen sehr groben Überblick geben.
Ärztevertreter halten wenig von dem Zahlenwerk. „Diese Versorgungszahlen können, wenn überhaupt, nur einen sehr groben Überblick geben“, sagt Kai Sonntag, der Sprecher der Kassenärztlichen Vereinigung Baden-Württemberg (KVBW). Das liege an der Berechnungsmethode. Die Versorgungsgrade werden für Hausärzte auf Ebene der Mittelbereiche, für viele Fachärzte auf Kreisebene oder für noch größere Gebiete berechnet. Eine „Verhältniszahl“ gibt an, wann Vollversorgung (100 Prozent) anzunehmen ist. Für Hausärzte im Mittelbereich Mannheim ist das etwa der Fall, wenn 1647 Einwohner auf einen Hausarzt kommen.
Wissenschaftliche Grundlage fehlt
Für die Berechnung der Verhältniszahl fehle eine wissenschaftliche Grundlage, sagt Sonntag. So werde nicht erfasst, wie viele Patienten ein Arzt wirklich behandelt. Tendenziell würden ältere Ärzte, die nach und nach in den Ruhestand gehen, mehr Patienten behandeln als ihre Nachfolger. Auch die Ansprüche der Patienten sind gestiegen. „Man geht heute wegen Dingen zum Arzt, deretwegen man vor 20 Jahren vielleicht nicht hingegangen wäre“, sagt Michael Eckstein. Außerdem sind die Gebiete, für die der Versorgungsgrad berechnet wird, zum Teil recht groß. Der Mittelbereich Mannheim etwa umfasst auch Edingen-Neckarhausen, Heddesheim, Ilvesheim und Ladenburg. Über die Verteilung der Ärzte innerhalb eines Gebiets sagen Durchschnittswerte nichts aus. Immerhin findet sich im Rhein-Neckar-Kreis in jeder Gemeinde außer Schönbrunn mindestens ein Hausarzt. Im Rhein-Pfalz-Kreis gibt es keinen Hausarzt in Hochdorf-Assenheim, Klein- und Großniedesheim, Heuchelheim, Fußgönheim und Hanhofen.
Auch wenn man wenig von den Versorgungszahlen hält, sind sie für den Blick in die Zukunft wichtig. Denn sobald für eine Fachrichtung ein Versorgungsgrad von mindestens 110 Prozent, also Überversorgung, eintritt, dürfen sich in der Gegend normalerweise keine weiteren Kassenärzte dieser Fachrichtung niederlassen. Es dürfen nur noch frei werdende Arztsitze übernommen werden. Weil weite Teile der Region mit Fachärzten überversorgt sind, kann die Zahl der Fachärzte hier also kaum steigen.
Gleichzeitig ist zumindest in den Städten kein genereller Rückgang der Zahl an Kassenärzten zu befürchten. Zwar rollt in der Ärzteschaft eine Ruhestandswelle – deutschlandweit ist mehr als ein Drittel der Hausärzte über 60. Doch die Region zieht Ärzte an, nicht zuletzt wegen der Universität Heidelberg und ihrer Kliniken.
So ist die Zahl der Hausärzte in allen Mittelbereichen im badischen Teil der Region seit 2013 weitgehend konstant, Sinsheim ausgenommen. Eine Studie im Auftrag der Robert Bosch Stiftung prognostiziert für alle Kreise in der Region bis zum Jahr 2035 eine konstante oder um bis zu 20 Prozent steigende Hausarztdichte, mit Ausnahme des Rhein-Neckar-Kreises, für den mit einem Rückgang um 20 bis 30 Prozent gerechnet wird.
Außerhalb der größeren Städte dürfte sich die Ärztedichte ausdünnen – schon deswegen, weil jüngere Ärzte weniger gerne eine Einzelpraxis betreiben und lieber als Angestellte oder in einer Gemeinschaftspraxis arbeiten. Michael Eckstein wird seine Hausarztpraxis in Reilingen bald abgeben. Dass er einen Nachfolger gefunden hat, bezeichnet er als „Lottogewinn“. Auch die Inhaber der anderen Praxen im Ort seien nur wenig jünger. Schon wenn nur ein Kollege keinen Nachfolger finde, könne das eine große Versorgungslücke reißen. Je weiter dann der Weg zum Arzt wird, desto wichtiger werden gute ÖPNV-Verbindungen, besonders für ältere Menschen, gibt Elisabeth Sauer vom Seniorenrat des Rhein-Neckar-Kreises zu bedenken.
Kommunen können fördern
Kommunen, die die Versorgung vor Ort erhalten oder verbessern wollen, bleibt nur, sich als Ärzte-Standort möglichst attraktiv zu machen. „Da ist eine Arztpraxis erst mal nichts anderes als irgendein anderes Wirtschaftsunternehmen, das der Gemeinde am Herzen liegt“, sagt KVBW-Sprecher Sonntag. Auch Ärzte ziehen lieber in Orte, an denen es Kindergärten, Supermärkte und genug Wohnraum gibt. Weil immer weniger Ärzte selbst eine Praxis betreiben wollen, brauchen sie dort aber auch einen Arbeitgeber. Diese Rolle kann etwa ein anderer Arzt oder ein Medizinisches Versorgungszentrum (MVZ) übernehmen. Auch Kommunen, darauf weist Sonntag hin, können MVZ gründen.
Ähnliches kann sich Eckstein vorstellen: Gemeinden könnten auf ihre Kosten Ärztehäuser bauen und ausstatten und es so für Ärzte attraktiv machen, dort Praxen zu eröffnen. Außerdem verweist er auf die bereits in einigen Gegenden ausgeschriebenen „Landarztstipendien“. Damit fördern Kommunen – zum Beispiel der Neckar-Odenwald-Kreis – Medizinstudierende, die sich dazu verpflichten, nach dem Studium dort für einige Zeit als Arzt zu arbeiten.
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