Wie viele Menschen ist auch der baden-württembergische Verkehrsminister Winfried Hermann alles andere als zufrieden mit den aktuellen Leistungen der Bahn. Deshalb hat das Ministerium einen hauptamtlichen Qualitätsanwalt berufen. Matthias Lieb wird sich nun um Verbesserungen aus Sicht der Fahrgäste bemühen.
Herr Lieb, wann sind Sie als regelmäßiger Bahnfahrer zum letzten Mal pünktlich an Ihr Ziel gekommen?
Lieb: Heute Morgen hat mein IC zwei Minuten Verspätung gehabt.
Und wie sieht’s da mit Ihren Erfahrungen mit der Pünktlichkeit im Nahverkehr aus?
Lieb: Es gibt viele Störungen. Kürzlich lag auf meiner Strecke eine Plane auf dem Gleis. Da war rund um Stuttgart alles gesperrt. Mein Zug nach Karlsruhe hatte dann 35 Minuten Verspätung.
Hier in der Metropolregion Rhein-Neckar verzweifeln die Menschen gerade am Öffentlichen Nahverkehr. Reihenweise kommen die Züge gar nicht oder viel zu spät. Die Krisenkommunikation klappt hinten und vorne nicht. Die Menschen steigen reihenweise wieder in ihre Autos um.
Lieb: Genau deshalb hat das Land im Rahmen seiner Qualitätsoffensive meine Stelle ja geschaffen. Man hat gesehen, dass momentan ganz vieles nicht so läuft, wie es soll. Ich bin Wirtschaftsmathematiker und habe die Aufgabe, tiefer zu schürfen und zu schauen: Woran liegt’s denn tatsächlich? Nicht das Offensichtliche ist immer das Problem.
Sie sind Qualitätsanwalt, aber nicht im juristischen Sinne.
Lieb: Ich bringe in der Organisation verstärkt die Fahrgast-Interessen auf allen Entscheidungsebenen ein. Man hatte ganz viele Prozesse optimiert. Alle halten sich an diese Prozesse, aber unterm Strich klappt’s dann doch nicht.
Was ist aus Ihrer Sicht zuerst zu tun?
Lieb: Da gibt es zunächst einmal die Anschluss-Problematik. An manchen Bahnhöfen klappt das gar nicht. Da muss man drauf hinwirken, dass es beispielsweise zu einer Fahrplanänderung kommt.
In der Metropolregion sind es aktuell eher die Personalengpässe auf den Stellwerken in Neckargemünd oder Ludwigshafen und im Fahrdienst. Offensichtlich ist nicht genug Personal da. Da kommen Sie als Qualitätsanwalt doch gleich an Ihre Grenzen? Sie können ja nicht mehr Leute einstellen.
Lieb: Ich führe Gespräche mit DB Netz und anderen Verkehrsunternehmen, um mir die Probleme anzuhören. Gerade in Neckargemünd hat man ja kurzfristig Personalausfälle gehabt. Und am Freitagmittag hieß es dann: Am Wochenende fährt nix mehr. DB Netz hat jetzt frühzeitig erklärt, dass an den nächsten Wochenenden das Stellwerk abends nicht besetzt werden kann. Das ist zwar unbefriedigend. Aber es ist jetzt frühzeitig angekündigt. Und damit können alle Beteiligten frühzeitig Ersatzpläne machen.
Hauptberuflicher Qualitätsanwalt
- Im Herbst hat das Stuttgarter Verkehrsministerium den „Aktionsplan Qualität im Schienenpersonennahverkehr“ gestartet. Dieser ist auf mehrere Jahre angelegt mit verschiedene Maßnahmen.
- Seit Oktober soll Matthias Lieb, angedockt an die Nahverkehrsgesellschaft Baden-Württemberg (NVBW), als professioneller Qualitätsanwalt für Verbesserungen im Sinne der Fahrgäste.
- Matthias Lieb ist 58 Jahre alt, kommt aus Mühlacker bei Pforzheim, der größten Stadt im Enzkreis.
- Er ist seit seit Jahrzehnten intensiver Bahnfahrer und war als Student schon mit dem Tramper-Monatsticket in ganz Deutschland unterwegs.
- Der studierte Wirtschaftsmathematiker arbeitete zuletzt bei einer Unternehmensberatung. Als Sachverständiger für die Altersversorgung bewertete er die Pensionsverpflichtungen der deutschen Wirtschaft.
Aber damit wird der Mangel ja auch zur Normalität erklärt.
Lieb: Natürlich ist das unbefriedigend, keine Frage. Zumindest ist es besser, frühzeitig die Probleme anzukündigen. Dann können sich die Fahrgäste wenigstens darauf einstellen und die Verkehrsunternehmen können rechtzeitig Ersatzbusse besorgen. Wenn aber erst Freitagmittag mitgeteilt wird, dass am Samstagabend das Stellwerk nicht besetzt werden kann, dann kann man gar nichts mehr organisieren.
Glauben Sie, dass die Bahn Sie überhaupt ernst nimmt? Haben Sie Sanktionierungsmöglichkeiten?
Lieb: Die habe ich nicht. Ich kann nur im Gespräch mitnehmen, wo die Herausforderungen liegen und versuchen, mit allen Beteiligten zu konstruktiven Lösungen zu kommen.
Was ist Ihre Qualifikation für das Amt des Qualitätsanwalts?
Lieb: Ich war elf Jahre lang Vorsitzender des Fahrgastbeirats Baden-Württemberg und bin seit 19 Jahren Landesvorsitzender beim Verkehrsclub VCD. In diesen Funktionen habe ich die Fahrgastinteressen schon umfangreich vertreten. Seit 30 Jahren engagiere ich mich beim VCD im Enzkreis. In diesen 30 Jahren habe ich mich sehr intensiv ehrenamtlich mit dem Bahnverkehr aus Fahrgastsicht beschäftigt. Was ich bislang ehrenamtlich gemacht habe, werde ich nun hauptberuflich tun.
Sie haben keine Angst davor, dass Sie in einem halben Jahr den Bettel frustriert wieder hinzuschmeißen werden?
Lieb: Es ist teilweise schon erschreckend, womit man konfrontiert wird. Aber ich wusste schon vorher, dass Einiges nicht funktioniert. Und letztendlich war genau das der Beweggrund, mich zu bewerben. So kann’s eben nicht weitergehen, wie es grade läuft.
Hat es Sie trotzdem erschreckt, wie groß die Defizite sind und dass diese Defizite in den vergangenen Monaten immer größer wurden?
Lieb: Letztlich sind die aktuellen Entwicklungen die Folgen einer Bahnreform vor 30 Jahren. Die hat dazu geführt, dass immer mehr auseinanderdividiert wurde. Früher gab es klare Verantwortlichkeiten und Zuständigkeiten in einem in sich abgeschlossenen Eisenbahnsystem. Jeder hat gewusst, wie er mitwirkt, damit das ganze Räderwerk ineinandergreift. Dann hat man das System in viele Einzelteile verlegt. Und heute ist keiner mehr da, der koordinierend eingreift.
Das ist das Grundübel?
Lieb: Das Land ist für den Nahverkehr verantwortlich, bestellt die Züge bei den Verkehrsunternehmen. Aber es hat keinerlei Einfluss darauf, ob das Gleis funktioniert oder der Bahnhof sauber ist. Jeder schiebt die Schuld auf den anderen. Es fühlt sich keiner dafür verantwortlich, dass das System insgesamt funktioniert.
Wie groß schätzen Sie Ihre Chancen ein, Verbesserungen zu erreichen.
Lieb. Die Stelle ist auf drei Jahren angesetzt. Ich werde natürlich nicht alles sofort verbessern können. Meine Aufgabe ist es, die Sicht der Fahrgäste in die Diskussion einzubringen und den Finger in die Wunde zu legen. Ich bin jetzt direkter an den Entscheidungen beteiligt und kann frühzeitiger diese Entscheidungen mit beeinflussen.
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