Weisenheim am Berg. Am 19. September 2020, um 18.18 Uhr, zerbricht Steffen Kirchners Leben. Seine Partnerin und sein 15 Monate alter Sohn sterben, eingeklemmt im Wagen der Familie. Nur einen Kilometer von ihrem Zuhause entfernt. Nach einem Frontalzusammenstoß mit einem anderen Wagen. Rettungskräfte benötigen Stunden, um den toten Körper seiner Verlobten aus dem Wrack zu bergen. Eine gute Freundin des Paares stirbt ebenfalls bei dem dramatischen Unfall.
Kirchners vier Wochen alte Tochter Nora Luna wird schwer verletzt mit einem Hubschrauber in ein Krankenhaus gebracht. Erst viel später erfährt der heute 35-Jährige, dass ihr Atlas, der erste Halswirbel, bei dem Unfall verletzt wurde.
Jaguar-Fahrer schweigt bislang
Fast zwei Jahre nach dem schweren Unfall zwischen Weisenheim am Berg und Kirchheim (Kreis Bad Dürkheim) beginnt am 21. Juni vor dem Frankenthaler Landgericht der Prozess gegen einen 29-jährigen Mann aus Biblis, der den Unfall mit seinem Jaguar verursacht haben soll. Die Staatsanwaltschaft hat Anklage wegen fahrlässiger Tötung und verbotenem Kraftfahrzeugrennen erhoben. Ihm droht eine Freiheitsstrafe zwischen einem und zehn Jahren.
Die Staatsanwaltschaft wirft dem Mann, der mit einem Beifahrer unterwegs war, vor, seinen Jaguar XF im Sportmodus auf eine Geschwindigkeit von 150 Stundenkilometern beschleunigt zu haben, in einer Rechtskurve sei er dann auf die linke Spur gedriftet - mit 120 km/h. Dabei soll er frontal mit dem Wagen zusammen gestoßen sein, in dem Kirchners Familie unterwegs war. Der 29-Jährige hat sich laut Gericht bislang nicht zu den Vorwürfen geäußert.
Steffen Kirchner kann sich noch gut an den 19. September 2020 erinnern, sagt er im Gespräch mit dieser Redaktion. Am Nachmittag, knapp anderthalb Stunden vor ihrem Tod, spricht der Weisenheimer das letzte Mal mit seiner Partnerin Sarah. „Sie wollte mit den Kindern und unserer Freundin nach Grünstadt, um für das Abendessen einzukaufen.“
Im Laufe des frühen Abends merkt Steffen Kirchner, dass etwas nicht stimmt. Ihn beschleicht ein merkwürdiges Gefühl. Keine der beiden Frauen geht ans Telefon. Der Brennholzhändler fährt von der Arbeit nach Hause, blickt auf Höhe Leistadt auf ein Meer aus Blaulichtern.
Daheim steht noch der Wagen der Freundin der Familie vor dem Haus. Kirchner fährt intuitiv zur Unfallstelle. An die Stelle, an der seine 31 Jahre alte Freundin und sein Sohn gestorben sind. „Wir haben uns jahrelang eine Familie gewünscht, wir waren so stolz auf unseren Sohn Finn Maximilian, der einfach ein supertolles Baby war. Unsere Familie wurde durch die Geburt von Nora Luna perfekt - und dann passiert so etwas.“
Steffen Kirchner ringt nach Worten. „Nora Luna wird ihre Mama und ihren Bruder nie kennenlernen.“ Seine Stimme bricht ab. „Sarah war ein lieber, ein hilfsbereiter Mensch.“ Eine, die immer für alle da gewesen sei. Für die Kollegen und ihre kleine Familie, die nun nur noch aus Steffen Kirchner und Nora Luna besteht. „Die Kleine ist der Grund, warum ich durchhalte, weitermache.“
Steffen Kirchner hat den Kindersitz seiner Tochter nach dem Unfall an die Herstellerfirma geschickt, auch den von Finn Maximilian, der im Innern komplett zerbrochen gewesen sei. „Noras Sitz hat ihr das Leben gerettet, und ich wollte, dass sie die Sitze untersuchen, um sie noch besser zu machen“, sagt Steffen Kirchner.
Spendenkonto
- Unterstützung für Nora Kirchner
- Die Sparkasse hat ein Spendenkonto für das Mädchen eingerichtet, das den Unfall überlebt hat:
- Sparkasse Rhein-Haardt, Nora Luna Kirchner. IBAN DE18 5465 1240 0005 7920 56
Großes öffentliches Interesse
Als der 35-Jährige an der Unfallstelle erfährt, dass das Leben seiner Familie in der Kurve einen Kilometer von Zuhause entfernt zerschellt ist, kann ihm zunächst niemand sagen, in welches Krankenhaus das vier Wochen alte Baby gebracht wurde.
Erst Stunden später erfährt er, wo seine Tochter behandelt wird. Und erst zwei Monate später stellt eine Orthopädin fest, dass Nora Luna am ersten Halswirbel verletzt worden ist. „Sie hat ihren Kopf nicht mehr bewegt, hatte den Bewegungsradius eines Menschen, der eine Halskrause trägt, hat vor Schmerzen geschrien.“ Aktuell gehe es dem Mädchen gut, sie müsse wegen ihrer Beschwerden aber immer wieder in Behandlung.
Kirchner tritt im Prozess, der am 21. Juni - einen Tag vor Finns drittem Geburtstag - beginnt, als Nebenkläger auf. Gleiches gilt für seine Schwiegereltern und Angehörige der 27-jährigen Freundin, die bei dem Unfall auf dem Beifahrersitz saß. Wegen des großen öffentlichen Interesses prüft das Frankenthaler Landgericht aktuell, ob die Zahl der Zuschauerplätze während des Prozesses erhöht wird. Derzeit gibt es Pandemie-bedingt 34 Zuschauerplätze im Sitzungssaal, von denen mindestens zehn für die Presse reserviert sind - denn das Medieninteresse ist groß.
Vier Prozesstage angesetzt
Die Plätze im Zuschauerraum sollen laut Gericht nach Reihenfolge der Anfrage ab 8.30 Uhr am Sitzungstag vergeben werden. Die Zuschauer erhalten laut einer Sprecherin Platzkarten. Außerdem werde es Sicherheitskontrollen geben. Insgesamt sind vier Prozesstage angesetzt.
Steffen Kirchner wird dem Unfallfahrer am 21. Juni um 9 Uhr erstmals gegenüber treten. Der Angeklagte blieb bei dem Unfall laut Gericht „annähernd unverletzt“. Bislang hat er keinen Kontakt zu Kirchner aufgenommen. „Ich könnte ihm ohnehin nur verzeihen, wenn er mir die Drei zurückbringt - und das ist leider unmöglich“, sagt der 35-Jährige.
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