Neustadt. Verlassen liegt der Eingang der Neustadter Stiftskirche in der Morgensonne. Für Besucher bleiben die Tore der spätgotischen Basilika geschlossen. Auch Gottesdienste finden nicht mehr statt. Trotzdem tut sich etwas hinter den Kirchenmauern: Restauratorin Kirsten Harms und ihr Team haben damit begonnen, die Malereien am zweiten Deckensegel im Südostjoch freizulegen. „Die Arbeiten haben trotz Corona-Krise wie geplant begonnen“, berichtet Pfarrer Oliver Beckmann. „Vor zwei Jahren hat Kirsten Harms im ersten Joch Malereien aus der Bauzeit unserer Kirche freigelegt. Jeweils vier Evangelisten und Kirchenväter sind zum Vorschein gekommen“, erinnert sich der Pfarrer. Die Fachleute seien von den Farben und der detailgetreuen Ausmalung überrascht gewesen. „Jetzt warten wir alle darauf, welche Bilder sich hinter dem Putz verbergen.“ Tatsächlich gebe es keinerlei Aufzeichnungen über die Motive, die vor einigen Jahrhunderten übermalt worden sind.
Sakrale Musik als Begleitung
Bereits während der ersten umfassenden Kirchenrenovierung vor einigen Jahren hat Harms Sichtfenster angelegt, die schon einige bunte Ausschnitte zeigen. Weil es auf der 25 Quadratmeter großen Gerüstplattform sehr schnell eng werden kann, arbeitet das Team in Schichten. Harms hat freiwillig den Nachtdienst übernommen: „Ich mag die Ruhe, und dass ich die dunkle Kirche ganz für mich alleine habe“, erzählt sie. Außerdem habe sie das große Glück, dass die Organisten oft spätabends üben. „Ich liebe sakrale Musik und bin sehr froh über diese Unterhaltung.“ Erschwert werde ihre Arbeit durch die ungewöhnliche Dunkelheit nicht. „Da der Gerüstboden dort liegt, wo das Gewölbe anfängt, haben wir sowieso kein Tageslicht und müssen alles ausleuchten.“
Drei Figuren seien bereits zu sehen. „Wer es ist, kann ich noch nicht sagen. Zwei sind vermutlich Engel und eine hält einen Hammer in der Hand.“ Für die Expertin ist es eine große Überraschung, dass die Malereien genauso aufwendig gestaltet sind wie im ersten Joch. „Es ist viel mit Licht und Schatten gearbeitet worden und die Gewänder sind sehr plastisch“, erzählt sie. Allerdings stecken die Kostbarkeiten unter 15 bis 17 Tüncheschichten. „Und die Unterste ist so fest mit dem Gemälde verklebt, dass sie sich kaum lösen lässt.“ Dieses Problem habe man auch im ersten Joch gehabt. „Wir setzen einen Mikro-Druckluft-Meißel ein, der in der Archäologie zum Bearbeiten von Knochen verwendet wird“, erklärt die Restauratorin.
Es gehe nur sehr langsam voran und erfordere große Konzentration. „Gotische Wandmalereien sind ohnehin sehr selten und diese sind sehr hochwertig, deshalb stehe ich unter Dauerspannung, weil ich nichts verletzten möchte“, verrät Harms.
Warum die Pracht einst übermalt wurde, liegt in der Geschichte des Gotteshauses begründet. „Wir waren eine reformierte Kirche, die die Bibel in den Mittelpunkt stellt. Da waren keine bildlichen Darstellungen erlaubt, die einen beim Gottesdienst auf andere Gedanken hätten bringen können“, erklärt die ehrenamtliche Kirchenführerin Helga Gutermann. Da die Stiftskirche eine von 15 Simultankirchen in Deutschland ist, teilt seit 300 Jahren eine Mauer den katholischen und den protestantischen Teil voneinander.
„Zuerst sind Fresken bei der Renovierung im katholischen Teil entdeckt worden. Deshalb wusste man, dass auch auf der anderen Seite welche sein müssen“, erklärt die Religionspädagogin.
Etwa vier Monate lang werden Kirsten Harms und ihr Team benötigen, bis die Deckenmalereien komplett freigelegt sind. „Sobald die Stiftskirche wieder frei zugänglich ist, können Interessierte das Gerüst erklimmen und sich alles aus der Nähe anschauen“, verspricht Pfarrer Beckmann. Dabei könne man auch mit den Restauratoren ins Gespräch kommen. Insgesamt 100000 Euro seien veranschlagt worden.
Da sich viele Firmen und Selbstständige aufgrund der aktuellen Situation mit Existenzproblemen plagten, hätten sich die Verantwortlichen der Stiftskirchengemeinde entschlossen, an dem Projekt festzuhalten. „Ein Großteil der Kosten soll durch ein kürzlich der Stiftskirche überlassenes Erbe in Höhe von etwa 25 000 Euro sowie durch Spenden des Bau- und Fördervereins gedeckt werden“, berichtet Beckmann. Der Pfarrer hofft, dass es nicht allzu lange dauert, bis Besucher sich wieder vom lichtdurchfluteten Langhaus mit seinem Kreuzgewölbe gefangen nehmen lassen dürfen.
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