Zuwanderung

Kreis Bergstraße: Grüner Kreisbeigeordneter prangert Überlastung der Kommunen an

Matthias Schimpf von den Grünen ist als Kreisbeigeordneter in Heppenheim für die Zuweisung von Flüchtlingen an die Kommunen zuständig. Was er im Interview sagt, mag überraschen

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Martin Schulte
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Matthias Schimpf fordert stationäre und mobile Grenzkontrollen. © Martin Schulte

Heppenheim. Herr Schimpf, pro Woche kommen im Schnitt 35 Flüchtlinge im Kreis Bergstraße an. Als hauptamtlicher Beigeordneter der Kreisverwaltung ist es ihr Job, diese Menschen auf die 22 Kommunen des Kreises zu verteilen. Was hören Sie aus den Städten und Gemeinden?

Matthias Schimpf: Das Ziel des Kreises war zunächst, die Menschen zentral unterzubringen und dann sukzessive auf die Kommunen zu verteilen. Damit sind wir an die Grenzen gestoßen, so dass wir im November 2022 festgestellt haben, wenn der Zustrom anhält, müssen wir handeln. Wir haben die Kommunen gebeten, uns Gebäude oder Flächen zu nennen, die der Kreis übernehmen kann, um weiterhin zentral unterzubringen. Das ließ sich nicht realisieren. Wir haben dann im Januar 2023 entschieden, den Kommunen Flüchtlinge zur Unterbringung zuzuweisen, während die Leistungsgewährung beim Kreis verbleibt. Diese Regelung gilt seit Mai 2023.

Was spiegeln Ihnen die Kommunen zurück?

Schimpf: Zu Beginn war das für sie eine sehr große Herausforderung. Inzwischen haben die Kommunen viele Kapazitäten geschaffen. Aber, um der Wahrheit die Ehre zu geben, das sind keine Dauerlösungen, und die Kommunen agieren nach wie vor an der Belastungsgrenze. Wir weisen den Kommunen nach Möglichkeit in erster Linie Personen mit Bleiberecht zu. Für diese Menschen sind Provisorien wie Container oder umgebaute Gewerbeimmobilien natürlich schwierig. Im zweiten Schritt sollen die Kommunen dafür sorgen, dass Integration gelingt. Integration heißt Sprache, Arbeit und selbstbestimmtes Wohnen . . .

. . . die Kommunen sagen, ihre Belastungsgrenze sei längst überschritten.

Schimpf: Ja, das ist richtig. Zumal der Prozess ja nicht beendet ist. Das heißt, selbst wenn den Städten und Gemeinden ab heute kein einziger Flüchtling mehr zugewiesen werden würde, sind sie mit der Administration derer, die bereits bei ihnen sind, sehr, sehr stark belastet.

Matthias Schimpf

  • Der hauptamtliche Beigeordnete des südhessischen Kreises Bergstraße ist seit August 2022 im Amt.
  • In Schimpfs Dezernat im Heppenheimer Landratsamt fällt die Zuweisung von Flüchtlingen an die Kommunen sowie das Ausländeramt.
  • Der 56-Jährige ist Sprecher der Grünen Bergstraße. mas

Sie waren unter anderem bei Lanz, werden in Spiegel zitiert, nachher treffen Sie sich mit ProSiebenSat1. Und Sie sind nicht der einzige kommunale Vertreter, der auf die Überlastung der Kommunen und Kreise hinweist. Hört man das in Berlin nicht?

Schimpf: Ich muss offen sagen, dass ich enttäuscht bin. Wir haben uns beim Kreis Bergstraße dazu entschlossen, das Thema offensiv zu vertreten, denn Integration findet vor hier Ort in den Kommunen statt. In Berlin wird die Politik gemacht, aber das, was zu tun ist mit all seinen Auswirkungen, das müssen die Menschen vor Ort leisten. Man hat lange versucht, die Thematik mit Beschwichtigungen in den Griff zu bekommen nach dem Motto „das wird schon“.

Was fordern Sie?

Schimpf: Umsetzbare Maßnahmen. Kapazitäten und Ressourcen sind begrenzt, wie auch Fläche. Deshalb fordern wir, dass uns nur Personen zugewiesen werden mit einer Bleibeperspektive von deutlich über 50 Prozent. Nun haben wir Menschen mit Bleibeperspektive hier und solche ohne. In der Gesamtheit sind es schlicht zu viele, um den Menschen mit Bleiberechtsperspektive zeitnah ein Integrationsangebot machen zu können. Im Ergebnis kümmern wir uns um alle gleich schlecht.

Sie werfen der aktuellen Bundesregierung und der Vorgängerin in Sachen Zuwanderung öffentlich Versagen vor.

Schimpf: Wir erleben regelmäßig die Wellen der Empörung in Berlin nach solch schrecklichen Attentaten wie zuletzt in Mannheim und Solingen.

Das kann man als Hysterie wahrnehmen.

Schimpf: Ja. Es werden sehr schnell Vorschläge gemacht, die sich schon auf den ersten Blick als undurchdacht herausstellen. Aber wenn wir auf die Fluchtbewegung 2015 zurückschauen - man hat im Grunde nichts dafür getan, um Humanität und Ordnung walten zu lassen. Humanitär war es richtig, die Menschen aufzunehmen. Aber Humanität und Ordnung sind zwei Seiten von ein und derselben Medaille. Wenn ich ein System nicht ordne, was die geregelte Migration angeht, wenn ich am Schluss nicht mehr weiß, wer bei mir im Land ist, wenn ich nicht weiß, dass Menschen kommen, die unseren Schutz womöglich nicht brauchen - dann verlieren die Bürger und Bürgerinnen das Vertrauen. Und das war der Grundfehler der Vorgängerregierung.

Und die aktuelle Regierung?

Schimpf: Diese ist da nicht besser, dass muss man deutlich sagen. Es gab und gibt kein stringentes Vorgehen. Wir haben im Oktober 2022 darauf hingewiesen, dass die Zahlen deutlich ansteigen werden. Das hat die Bundesinnenministerin noch bis in den Januar hinein negiert. Wir brauchen eine Begrenzung der Zuweisungen an die Kommunen, wir brauchen eine finanzielle Ausstattung, und wir brauchen dauerhaft eine Steuerung von Migration, dazu gehört auch eine klare Trennung und Unterscheidung von Asyl und Arbeitsmigration. Das haben wir deutlich gemacht.

Sie sagen, die Bürger hätten den Anspruch auf einen handlungsfähigen Staat, dieser befände sich aber an der Grenze zum Kontrollverlust. Stimmt es, dass Afghanen, die hier Schutz genießen, Urlaub bei der Familie in der Heimat machen und dann zurückkommen?

Schimpf: Ja, natürlich. Es ist durch aktuelle Recherchen belegt worden, dass es Ausreisen mit einem Zweitvisum gibt, die via Iran nach Afghanistan führen. Das kann man den Menschen einfach nicht erklären. Jemand, der vor dem Taliban-Regime flieht, bei uns Schutz genießt und eine hohe Bleibeperspektive hat, und dann in dieses Land zurückkehrt, der muss er hier seinen Schutzstatus verlieren. Da führt kein Weg dran vorbei.

Der Bundeskanzler sagt, er halte sich in Sachen Asylrecht an das Grundgesetzt und europäische Verträge. Sitzen wir also in der Klemme?

Schimpf: Nein, wir sitzen natürlich nicht in der Klemme! Wir erwarten selbstverständlich von einem Bundeskanzler, dass er sich ans Grundgesetz hält. Deshalb bin ich auch so verwundert, wenn nach solchen Attentaten regelmäßig solch ein Überbietungswettbewerb mit Maßnahmen auf den Markt geworfen wird.

Wie CDU-Chef Friedrich Merz, der vorschlug, kategorisch keine Menschen aus Syrien und Afghanistan mehr aufzunehmen.

Schimpf: Genau, auch wenn er dies zwischenzeitlich revidiert hat. Diese Pauschalisierung geht nicht, denn Asylrecht ist grundsätzlich ein individuelles Recht. Und jeder, der kommt, hat den Anspruch auf individuelle Prüfung seines Antrags . . .

. . . und warum sitzen wir nicht in der Klemme?

Schimpf: Es gibt schon Möglichkeiten, handlungsfähiger zu werden. Das heißt, dass wir natürlich unsere Binnengrenzen sichern müssen. Dass wir irreguläre Migration unterbinden, in dem wir an den Grenzen Schlepper festsetzen. So könnten wir die Zahlen reduzieren - und wir würden wissen, wer in unser Land kommt.

Grenzkontrollen wie bei der EM?

Schimpf: Ja, dabei sind in einer Woche an die tausend Leute aufgegriffen worden, die illegal in dieses Land gekommen wären. Zudem sind 170 Haftbefehle vollstreckt worden. Das heißt, mit mobilen und stationären Grenzkontrollen plus Schleierfahndung, bekommt man einen Überblick darüber, wer in dieses Land will und unterbindet illegale Einreisen.

Warum bekommt einer, der die beschriebenen Missstände benennt, so schnell die Nazi-Keule übergezogen.

Schimpf: Das würde ich so nicht sagen wollen. Es kommt darauf an, wie man sich äußert. Wir sollten am Asylrecht nicht rütteln. Wir sollten das Asylrecht aber auch nicht aushöhlen dadurch, dass wir so viele Menschen im Land halten, nicht zu einer Verfahrensentscheidung kommen und im Falle einer Entscheidung diese nicht vollziehe. Stichwort Ausreise oder Abschiebung. Infolge der vielen Menschen, die hier sind, können wir den wirklich Schutzbedürftigen und Bleibeberechtigten kein vernünftiges Angebot machen, dass sie Teile dieser Gesellschaft werden. Noch mal: Humanität unbedingt, aber nur geordnet. Tatsächlich schutzbedürftige Menschen werden über einen langen Zeitraum provisorisch untergebracht - und das ist eben nicht humanitär.

Ist es möglich, zwei Attentäter, die sich so still radikalisiert haben, wie die Täter von Mannheim und Solingen, früh genug zu erkennen?

Schimpf: Die Frage ist, wann ist so jemand falsch abgebogen.

Das kann doch niemand bemerken.

Schimpf: Die Frage ist, warum gelingt es nicht, in die zweite Reihe der Gesellschaft zu schauen. Wer radikal-islamistisch unterwegs ist, wer das Kalifat fordert, fordert die Abschaffung unseres Staates und verwirkt sein Aufenthaltsrecht.

Meinen Sie mit „in die zweite Reihe schauen“ die Sicherheitsbehörden und Geheimdienste? Ihre Wirkung ist in Deutschland historisch bedingt vergleichsweise beschränkt. Wir sind froh, wenn englische, israelische oder amerikanische Diesnte Hinweise geben.

Schimpf: Das sage ich doch: Wir brauchen ein Augenmerk mit eigenem Know How. Wenn ich etwa Grenzkontrollen mache, muss ich die Bundespolizei entsprechend ausstatten, mit Personal, mit Ausrüstung und Befugnissen. Das gilt auch für den Verfassungsschutz. Ich kann privat mit Programmen zur Gesichtserkennung Leute suchen und finden. Wenn der Verfassungsschutz das macht, wird daraus ein Datenschutzverstoß. Auch das kann man niemandem erklären.

Wie kommentieren Sie die Wahlen in Thüringen und Sachsen im Kontext dieses Gesprächs?

Schimpf: Die Ergebnisse haben sich abgezeichnet und waren leider erwartbar, weil viele Menschen es den demokratischen Parteien offenbar nicht mehr zutrauen, dass diese sich der Sorgen und Ängste annehmen und an tatsächlichen Lösungen arbeiten und diese auch umsetzen. Vieles wirkt dann eher getrieben als planvoll, wie die richtigerweise vollzogene Abschiebung von Straftätern nach Afghanistan, die plötzlich möglich war, in den Wochen zuvor aber als faktisch unmöglich bezeichnet wurde.

Herr Schimpf, ihre Forderungen sind eher ungewöhnlich für einen Grünen. Ecken Sie intern nicht an?

Schimpf: Bei den Bergsträßer Grünen nicht. Wir teilen das Credo der geordneten Humanität. Aber wenn es weiter hinaufgeht in der Partei, wird der Wind schon eisiger.

Redaktion Reporter.

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