Kiew. Es war eine trügerische Ruhe in den vergangenen Monaten in der Ukraine. Nach der russischen Neujahrsoffensive herrschte weitgehend Ruhe im Land. Deshalb nahm Karsten Drath das Risiko in Kauf und reiste vergangene Woche nach Kiew. Sein Ziel: Mit Partnern vor Ort ein neues Hilfsprojekt starten.
Er reiste mitten hinein ins vermeintlich ruhige Kriegsgebiet - und erlebte das Grauen nächtlicher Luftalarme. Drath blieb unversehrt, aber er sagt, noch ganz unter diesem Eindruck: „Das geht nicht mehr weg. Ich kann nicht mehr wegschauen.“ Die Nachrichten aus der Ukraine, die er zuletzt gedanklich ausgeblendet hatte, sind wieder allgegenwärtig. Der 36-stündige Besuch in der ukrainischen Hauptstadt hat die Sicht des Meckesheimers auf die Dinge und auf den Krieg gewaltig verändert.
Karsten Drath ist Inhaber einer Firma, die Führungskräfte coacht. Außerdem leitet er die Cosmikk Foundation, eine Stiftung, die sozial, humanitär und ökologisch engagierte Menschen kostenlos in ihrem Engagement anleitet und bestärkt. Dafür radelt Drath etappenweise um die Welt, um Spenden einzusammeln. Diese Redaktion hat schon häufiger über seine Aktionen und Touren berichtet.
Eine App „Air Alert“ informiert über die Warnstufen
In der Ukraine wollte er mit seiner Stiftung die Zusammenarbeit mit dem neuen Projektpartner „Future für Ukraine Foundation“ (Stiftung Zukunft für die Ukraine) besiegeln und festzurren. Das hat er auch geschafft. Aber Drath lernte auch den Alltag des Krieges kennen. Schon als er am Mittwochnachmittag zur Ankunft mit dem Taxi durch die Stadt rollte, kam der erste Luftalarm.
Es gibt in der Ukraine die App „Air Alert“, die verschiedene Warnstufen aufführt. Dieser Alarm meldete Aufklärungsdrohnen, die Artillerie-Stellungen ausbaldowern sollten. Das beeindruckt in Kiew niemanden mehr. Das Leben auf den Straßen nahm ungerührt seinen Lauf, keine Spur von Panik bei den Manschen.
Das änderte sich in der Nacht. Um 3 Uhr heulten die Sirenen. Sofort eilte er in den Luftschutzkeller des Hotels. Karsten Drath hatte eigens das Hotel gewählt, weil es einen Keller 20 Meter unter der Erde hatte. 31 Marschflugkörper waren in Richtung Kiew unterwegs. Und da kamen ihm im Keller Gedanken wie „Hoffentlich ist die Luftabwehr der Ukraine so gut wie ihr Ruf.“
In diesem Fall funktionierte der Schutzschirm: Alle 31 Raketen wurden abgeschossen, Trümmerteile setzten jedoch Gebäude in Brand. Um 6 Uhr kam schließlich die Entwarnung. „Da kommt man aber nicht mehr zur Ruhe“, sagt Draht, er trainierte im Fitnessraum das Adrenalin weg. „Wir haben alle weiter gemacht, auch wenn jeder wusste, dass keiner die Nacht geschlafen hat.“
Am Tag gab’s den nächsten Luftalarm, allerdings auch schnell Entwarnung. Die zermürbendsten - und auch häufigsten - Alarme seien die in der Nacht, mal um 22 Uhr, mal um 3 Uhr. Gleichwohl habe er ein unglaublich starkes Wir-Gefühl erlebt, eine fast schon grimmige Zuversicht. Aber natürlich seien die Menschen gestresst. Auf dem Rückweg durch die Westukraine ahnte er die Gefahr gar nicht, in der er schwebte. Genau in dieser Nacht schickte Russland 151 Marschflugkörper in das Gebiet, das weit weniger geschützt ist als die Hauptstadt. Nur 96 Raketen wurden abgeschossen, 55 fanden ihr Ziel.
Und was nimmt Drath vom 36-stündigen Kurzbesuch mit? Ganz oben steht die eine Erkenntnis: „Es darf uns nicht egal sein, was da passiert“. Die Arbeit, die Unterstützung der Menschen dort sei wichtig und richtig, sagt der Coach. Sie müsse weitergehen. Aber auch das hat er gespürt: „Das Gefühl der Ohnmacht ist größer geworden.“
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