Rhein-Neckar. Joachim Nagel spart nicht an Eingeständnissen. Unter Notenbankern gebe es einen „Gen-Defekt, den wir alle haben“, scherzt der Präsident der Deutschen Bundesbank in Mannheim vor vollem Saal. Er deutet damit die Tendenz in seinem Berufsstand an, Risiken auf den Finanzmärkten eher zu überschätzen als zu unterschätzen. Selbst in sichersten Zeiten würde ihm nie über die Lippen rutschen, dass es kein Risiko gibt, meint er.
Vortrag am ZEW Mannheim zu Trumps erratischer Zollpolitik
Aktuell wäre das ohnehin weltfremd: Die wirtschaftspolitische Unsicherheit ist so hoch wie seit Jahren nicht. Im Mannheimer Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) spricht Nagel eineinhalb Stunden lang über die „erratische“ US-Zollpolitik unter Trump, wie er sie nennt – und ihre Auswirkungen auf geldpolitische Entscheidungen in Europa.
„Wir Notenbanker neigen dazu, dass wir sowieso risikoavers sind“, führt Nagel aus. Das sei Teil der Vorsicht, die sich spätestens seit der Finanzkrise bewährt hat – und die doch, angesichts geopolitischer Unwägbarkeiten, zunehmend herausfordernd wird. Trotzdem: Er befürwortet, flexibel zu bleiben, sich von Sitzung zu Sitzung an neuen Daten entlangzuhangeln und keine langfristige Strategie für die Entwicklung der europäischen Leitzinsen zu früh festzuzurren. Belastbare Aussagen, ob es im Juni zu einer weiteren Leitzinssenkung seitens der EZB kommen könnte, trifft Nagel also keine. Als Bundesbanker verantwortet er das ohnehin nicht persönlich.
Dieses Fahren auf Sicht – also Schritt für Schritt entscheiden statt langfristig planen – sei in den vergangenen Jahren Europas geldpolitische „Erfolgsformel“ gewesen. Erschwerend kommt hinzu: Anders als beim Wetter, meint Nagel, könne man in der Wirtschaft nicht einmal die aktuellen Verhältnisse einwandfrei beobachten. Zu lückenhaft sei die Datenlage, viele Verallgemeinerungen stützten sich zudem auf Modelle, die wackeln wie Kartenhäuser. Trotz alldem, betont Nagel stolz, seien die europäischen Inflationsraten aktuell wieder moderat. Sie nähern sich dem von der EZB ausgerufenen langfristigen Inflationsziel von zwei Prozent. Nagel wirkt ernst, stets in fachlichem Duktus, will Optimismus verbreiten.
Ist all das, neben der parallel formulierten Selbstironie, dem Scherzen über „Gen-Defekte“, Teil seiner ausgeklügelten Kommunikationsstrategie? Zumindest lässt Nagel seine öffentlichen Auftritte seit Kurzem auch von einer KI überprüfen, denn „Kommunikation ist in der Geldpolitik oft wichtiger als die Entscheidung selbst“, weiß er.
Zur Person
- Joachim Nagel, 58, ist seit 1. Januar 2022 Präsident der Deutschen Bundesbank. Er ist zwar SPD-Mitglied, schreckt jedoch auch vor nicht-sozialdemokratischen Positionen nicht zurück.
- 1966 wurde Nagel in Karlsruhe geboren, später studierte er dort Volkswirtschaftslehre und promovierte 1997 an der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Karlsruhe (heute: Karlsruher Institut für Technologie, KIT).
- Schon von 2003 bis 2016 übte er leitende Positionen in der Deutschen Bundesbank aus.
- Qua Amt ist Nagel aktuell unter anderem Mitglied des Rats der Europäischen Zentralbank , des Verwaltungsrats des Europäischen Ausschusses für Systemrisiken (neu nach der Finanzkrise geschaffen) und Mitglied der G7 wie G20 Finanzminister und Notenbankgouverneure. harm
Er wolle mittels KI noch mehr zur tatsächlichen Wirkung seiner geldpolitischen Worthülsen lernen – um sie gegebenenfalls zu überarbeiten. Er will also auf keinen Fall ungewollt zu pessimistisch klingen. Zentral sei, so Nagel, dass die Menschen den Stabilitätsversprechen der Bundesbank auch vertrauen. Das mit der hohen Glaubwürdigkeit habe in den letzten Jahren sehr gut geklappt, ist der promovierte Volkswirt erleichtert. Doch worauf fußen seine optimistischen Stabilitätsversprechen überhaupt?
Zuletzt fand der Bundesbank-Präsident im Zusammenhang mit Trumps Zolldrohungen Anfang April drastische Worte und zeichnete das Bild einer „Beinahe-Kernschmelze“ an den Finanzmärkten. Im ZEW erneuert er seine Einschätzung und spricht von einer „Kernschmelze, die die Gefahr in sich hatte, dass wir auf den Finanzmärkten in sehr unsicheres Fahrwasser gekommen wären“. Nur knapp sei das abgewendet worden. Anfang April habe nicht mehr viel gefehlt, so Nagel, bis die hohe Sicherheitsstellung amerikanischer Finanzprodukte hätte herabgestuft werden können.
Trotz aller Bemühungen um Optimismus: „Wir haben es mit einem kaum berechenbaren Kreislauf zu tun“, stellt Nagel klar. Zoll-Androhungen, Rücknahmen, Erhöhungen – nach dem Aufstehen blickt Nagel oft als Erstes auf sein Handy: Welche Nachrichten gibt es heute aus dem Weißen Haus? „Das ist im Grunde genommen das neue Normal, in dem wir uns bewegen.“
Nagel spricht von „Abstrahleffekten“, die Trumps ständige Zollankündigungen auf die Finanzmärkte haben – ungeplante, unvermeidbare Nebenwirkungen also. Doch ob die US-Administration mit ihrer neuen Handelspolitik tatsächlich auch primäre Ziele verfolgt, fragt ein Gast im Publikum und kassiert ein schnelles „Nein“ vom Bundesbank-Präsidenten. „Für mich ist aufgrund der erratischen Entwicklung eine ganz grundlegende Strategie dahinter nicht erkennbar“, findet Nagel. Zumindest nicht, was konkrete geldpolitische Ziele angeht. Derzeit sinke das Vertrauen in den US-Dollar, das könne von Amerika kaum gewollt sein, der Euro dagegen wertet auf.
Joachim Nagel: Inflationsschübe könnten schneller und heftiger ausfallen
Nagel blickt auch auf die Inflationsdynamik der vergangenen Jahre – und spielt dabei mit einem Gedanken, der selten derart deutlich geäußert wird. „Die Erfahrung starker Preisschübe war für viele neu und einschneidend“, stellt er zunächst fest. Künftige Inflationsschübe könnten schneller und heftiger ausfallen, warnt er dann. Denn die Erinnerung daran, dass Geld spürbar schnell weniger wert werden kann, verschwinde nicht so schnell aus den Köpfen. Schnellere, weniger zurückhaltende Erhöhungen von Preisen wie Löhnen könnten die Folge sein, die eine Inflation dann spiralenartig weiter ankurbeln. Dem entgegenzuwirken, bleibt also – mehr denn je – Daueraufgabe von EZB und Bundesbanken.
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