Eine Studie zum sexuellen Missbrauch sorgt aktuell im Bistum Mainz für reichlich Gesprächsstoff und Unruhe. Bischof Peter Kohlgraf sucht das Gespräch mit den Gemeinden. An diesem Montag ist er im südhessischen Bürstadt. Vorab sprach er mit dieser Redaktion.
Herr Bischof, die Studie des Regensburger Rechtsanwalts Ulrich Weber hat sexuellen Missbrauch in Ihrem Bistum aufgedeckt. Es gibt ein breites Systemversagen, wie Sie selbst formuliert haben. Was hält Sie angesichts dieser Ungeheuerlichkeiten selbst noch in der katholischen Kirche?
Peter Kohlgraf: Die vielen positiven Erfahrungen, die es in meiner Lebensgeschichte und meinem Glauben auch gibt. Es sind die Begegnungen mit vielen Menschen, die den Glauben sehr ernst nehmen und mir auch sehr viel gegeben haben. Mich hält der Glaube an Gott, der immer wieder treu zu seinem Volk gehalten hat – gerade auch dann, wenn es große Schuld auf sich geladen hat.
Haben Sie im Lauf des Erkenntnisprozesses nicht auch mal darüber nachgedacht, hinzuwerfen und vielleicht sogar auch aus der Kirche auszutreten?
Kohlgraf: Nein, ein Kirchenaustritt ist für mich tatsächlich keine Frage – und nicht nur deswegen, weil ich mein Geld als Bischof verdiene. Dafür ist mir die Kirche als Institution zu wichtig. Ich erlebe in ihr wirklich auch die Gegenwart Gottes – in aller menschlichen Begrenztheit. Das relativiert überhaupt nichts und soll auch keine Schuld mit frommen Worten überdecken. Es ist auch meine Aufgabe als Bischof, jetzt Verantwortung zu übernehmen. Ich trage die Verantwortung und tue das auch mit Überzeugung.
Im Bistum Speyer hat Generalvikar und Bischof-Stellvertreter Andreas Sturm den Schnitt vollzogen und ist zu den Altkatholiken gewechselt.
Kohlgraf: Das ist seine persönliche Lebens- und Glaubensentscheidung, die ich respektiere. Meine Entscheidung sieht anders aus.
Wie viele Opfer und wie viele Beschuldigte des sexuellen Missbrauchs hat die Studie „Erfahren – Verstehen – Vorsorgen“ von Ulrich Weber nun im Bistum seit 1945 dokumentiert?
Kohlgraf: Wir reden aktuell über 401 Betroffene und 181 Beschuldigte. Aber wir müssen von einer hohen Dunkelziffer von Menschen ausgehen, die sich nicht gemeldet haben und von denen wir nichts wissen. Der Anlass, die Mainzer Studie zu beauftragen, war die MHG-Studie (ein interdisziplinäres Forschungsprojekt zum sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche in Deutschland, erforscht von Experten aus Mannheim, Heidelberg und Gießen, Anm. d. Red.). Diese Studie hatte ausschließlich Kleriker im Blick. Es war eine ernüchternde Zahl, dass fünf Prozent der Kleriker beschuldigt worden sind.
Bestätigt die Mainzer Studie diese Größenordnung?
Kohlgraf: Ich würde daraus kein Zahlenspiel machen. Allein das Faktum, dass wir dieses Problem in der Kirche haben, nötigt mich als Bischof, Verantwortung zu übernehmen und Maßnahmen für Gegenwart und Zukunft zu ergreifen.
Haben die Abgründe, die deutlich werden, Sie überrascht?
Kohlgraf: Nach den Studien der vergangenen Jahre auch aus anderen Bistümern tatsächlich eher nicht.
Die Studie stößt auch Ihren Vorgänger, Karl Kardinal Lehmann vom Sockel. Auch er hat weggeschaut, Opfer mit Härte abgewiesen. Wie bewerten Sie ihn nach den neuen Erkenntnissen?
Kohlgraf: Diese Seite gehört zu seiner Persönlichkeit und zu seiner Amtsführung. Rechtsanwalt Weber unterscheidet sehr fair drei Phasen. Ganz am Anfang seiner Bischofszeit, in der es auch keine Leitlinien gab, galt: Abwehren und Vortäuschen. Die Institution sollte geschützt werden. Schlimmer finde ich sein Verhalten in einer Zeit, in der es Leitlinien gab, die Lehmann als Vorsitzender der Bischofskonferenz sogar mit verantwortet und an ihnen mitgearbeitet hat. Man muss ihn letztlich danach beurteilen, ob er sich an diese Leitlinien gehalten hat. Da trifft Weber ein sehr hartes Urteil. Aber natürlich ist das Lebenswerk eines Bischofs nicht auf diese eine Thematik zu reduzieren, so schlimm sie auch ist.
Welche Konsequenzen ziehen Sie für Ihr Bistum aus der Studie?
Kohlgraf: Wir fangen ja nicht bei Null an. Interventionsschritte gab es schon vor der MHG-Studie. Nach Kenntnis der Studie haben wir unsere Interventionsarbeit noch intensiviert. Wenn sich Betroffene melden, verfahren wir nach klaren Verfahrensweisen. Das schafft Transparenz. Und es ist kein Zwei- oder Vier-Augen-Prinzip mehr. Aufarbeitungskommission, Interventionsbeauftragte, Präventionsbeauftragte, unabhängige Ansprechpartnerinnen und Ansprechpartner stehen den Betroffenen helfend zur Seite. Wir haben viele Stellen, die mitarbeiten. Damit wird verhindert, dass der Bischof – wie vielleicht noch vor zehn Jahren – mit dem Generalvikar und dem Personaldezernenten die Dinge unter Ausschluss der Öffentlichkeit bespricht. Außerdem legen wir großen Wert auf Prävention: 20 000 Menschen im Bistum Mainz sind mittlerweile geschult. Wir erarbeiten Schutzkonzepte für alle kirchlichen Einrichtungen, sodass alle Kinder und Jugendliche ein wirklich sicheres Umfeld vorfinden. Wenn etwas vorfällt, was sich nie ausschließen lässt, ist völlig klar, wie wir vorgehen. Das kann ich heute garantieren.
Und für die Zukunft?
Kohlgraf: Die Aufarbeitungskommission, die vom Bischof völlig unabhängig arbeitet, wird sich genau anschauen müssen, welche Hausaufgaben sich für sie aus der Studie ableiten. Das reicht bis hin zur Frage einer zukunftsfähigen Gedenkkultur. Es sind auch schon Fragen gekommen, wie wir mit Grabdenkmälern, Straßennamen und Gebäudebezeichnungen umgehen. Ich plädiere dafür, nicht einfach Erinnerung an Personen zu streichen, sondern auch ihre dunklen Seiten in einer Gedenkkultur mit einzubringen. Der entscheidende Punkt für mich ist, dass wir für die Zukunft lernen können.
Wie gehen Sie mit noch lebenden Mitwissern und Beschuldigten um?
Kohlgraf: Die Studie hat die Beschuldigten anonymisiert. Das ist zunächst gut so, weil somit auch Betroffene geschützt werden. Aber wir werden uns die Studie daraufhin sehr genau anschauen, welche Personen des kirchlichen Lebens neben dem Bischof, dem Generalvikar, dem Kirchenrichter und dem Personalverantwortlichen noch genannt werden. Und wir werden uns sicherlich anschauen müssen, wer möglicherweise in einer mittleren Ebene in Verantwortung stand, die die Studie nicht nennt. Aber das lässt sich nicht in wenigen Wochen erledigen. Das ist eine Hausaufgabe, bei der viele Menschen ins Gespräch kommen müssen.
Manche Ihrer Amtskollegen tun sich schwer, Missbrauchsopfern zu begegnen. Wie halten Sie’s?
Kohlgraf: Ich habe mit allen Betroffenen persönlich gesprochen, die sich nach der MHG-Studie gemeldet haben. Das waren etwa 20 Personen, später kamen weitere Gespräche mit Betroffenen hinzu. Ich spreche dann mit den Menschen, wenn die Verfahren abgeschlossen sind. Während laufender Verfahren treffe ich mich nicht mit Betroffenen und auch nicht mit Beschuldigten. Das machen wir, um nicht in den Verdacht zu geraten, auf irgendeine Weise Einfluss nehmen zu wollen. Solange die Staatsanwaltschaft ermittelt und das kirchliche Verfahren läuft, mache ich persönlich nichts. Aber Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter begleiten die Betroffenen natürlich.
Welche Reaktionen erleben Sie, wenn Sie nach den Verfahren mit den Opfern sprechen?
Kohlgraf: Das ist unterschiedlich. Manche sind dankbar, dass man ihnen überhaupt zuhört. Es gab aber auch Reaktionen wie: „Kommen Sie uns jetzt nicht mit ein bisschen Entschuldigung und Gebet“ oder „Mit Geld werden Sie unserem Leid auch nicht gerecht.“ Andere sprechen dagegen deutlich die finanzielle Seite an. Es gibt also eine ganze Bandbreite an Reaktionen, die den Menschen hilft, eine Form des Abschlusses zu finden – wenn überhaupt.
Sie wollen jetzt über Dialogforen mit Menschen aus allen Regionen des Bistums ins Gespräch kommen. Was versprechen Sie sich von diesem Format?
Kohlgraf: Zunächst einmal gilt: Das ist ein erster Aufschlag, aber nicht das Ende der Gespräche. Es gibt immer noch Gemeinden, wo es verdeckt oder offen Diskussionen zum Thema gibt und Täter gewirkt haben. Diese Gemeinden werden wir nicht alleine lassen. Von den Dialogforen erhoffen wir uns, dass die Menschen erst einmal ihre Fragen loswerden können.
Für Südhessen findet das Forum in Bürstadt statt. Warum Bürstadt, warum in der „Provinz“?
Kohlgraf: Weil auch in der Provinz Menschen leben, die eventuell von Missbrauch wissen, betroffen sind und weil es rund um Bürstadt möglicherweise Gemeinden gibt, in denen es solche Themen gegeben hat.
Es wird aber nicht das letzte Gesprächsangebot sein?
Kohlgraf: Wir werden darauf reagieren, wie Gemeinden sich jetzt melden und Gesprächsbedarf anmelden. Dann stehe ich als Bischof zur Verfügung. Wir können natürlich nicht garantieren, dass es in Zukunft keinen Missbrauch mehr gibt. Aber wir können garantieren, dass nach klaren, rechtlich sauberen Verfahren gehandelt wird.
Und dass Verdachtsfälle an die Staatsanwaltschaft gemeldet werden?
Kohlgraf: Selbstverständlich. Wir haben alle Fälle, die wir seit 1945 kennen, nochmals den Generalstaatsanwaltschaften vorgelegt.
Peter Kohlgraf
- Der Bischof von Mainz ist in Köln geboren und hat am vergangenen Mittwoch seinen 56. Geburtstag gefeiert.
- Er promovierte im Jahr 2000 an der Universität Bonn.
- Die Habilitation folgte 2010 an der Universität Münster.
- 2013 wurde er von Karl Kardinal Lehmann zum Professor an der Katholischen Hochschule Mainz ernannt.
- Am 27. August 2017 wurde er zum Bischof von Mainz geweiht.
- 2019 beauftragte Kohlgraf die Missbrauchsstudie.
Wir haben alle Fälle, die wir seit 1945 kennen, nochmals den Generalstaatsanwaltschaften vorgelegt.
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