Ludwigshafen. „Links, rechts, links, rechts, links, rechts“, sagte der uniformierte Mann, den Albrecht Weinberg sah, als er 1943 mit vielen anderen aus dem engen Waggon ausstieg. „Ich verstand in diesem Moment nicht, was das bedeutete. Die SS-Wachen, die Männer mit den gestreiften Sträflingskleidern und den geschorenen Köpfen unter ihren Häftlingskappen, die Schläge, das Durcheinander, die Hetze und dazu diese Befehle“, beschreibt Weinberg.
Als er an der Reihe war, zögerte der Mann in Uniform nicht lange: Rechts. Später erfuhr er, dass er damit als arbeitsfähig galt. Die übrigen Personen mussten nach links und wurden sofort vergast: „Die Mutter mit dem weinenden Kleinkind, die alte Frau, die Gebete gemurmelt hatte, der Mann mit dem Holzbein“, beschreibt Weinberg. 534 von etwa 1000 Juden im Waggon wurden direkt bei ihrer Ankunft in Auschwitz ermordet. Diese Geschichte aus seinem Leben erzählt der heute 99-Jährige in seiner Biografie mit dem Titel „Damit die Erinnerung nicht verblasst wie die Nummer auf meinem Arm“.
Die BASF in Ludwigshafen will ihre dunkle Vergangenheit aufarbeiten
Für eine Lesung besucht der Holocaust-Überlebende die BASF. Als Unterstützung sind auch seine Betreuerin Gerda Dänekas und Nicolas Büchse, Co-Autor und Stern-Journalist, dabei. Die Veranstaltung ist gut besucht: Knapp 400 Gäste hören gespannt zu, darunter auch Katja Scharpwinkel, Mitglied des Vorstands und Standortleiterin Ludwigshafen sowie die Oberbürgermeisterin von Ludwigshafen, Jutta Steinruck. Die Lesung ist Teil der BASF-Initiative „Gedenken. Nachdenken. Umdenken.“ Mit dem Programm will der Chemiekonzern seine dunkle Firmengeschichte aufarbeiten.
Die BASF schloss sich 1925 mit anderen deutschen Chemieunternehmen zur I.G. Farben zusammen. Ab 1941 errichtete diese Interessengemeinschaft in einem Vorort von Auschwitz einen neuen Chemiekomplex. Direkt am Rand der I.G. Farben-Baustelle wurde das Konzentrationslager Buna-Monowitz (später Auschwitz III) gebaut. Hier wurden die KZ-Häftlinge untergebracht, die auf der Baustelle Zwangsarbeit leisten mussten. Laut BASF wurden 35 000 KZ-Häftlinge bis Januar 1945 für die härtesten Arbeiten eingesetzt. 30 000 von ihnen starben. Weinberg und seine Geschwister überlebten, seine Eltern und 38 weitere Verwandte kamen in verschiedenen Konzentrationslagern ums Leben.
So war die Kindheit von Holocaust-Überlebenden Albrecht Weinberg
Albrecht Weinberg wurde 1925 in einem kleinen Ort nahe Leer in Ostfriesland geboren. Er war das jüngste Kind einer jüdischen Familie. Mit seinen Geschwistern Friedel und Dieter war er unzertrennlich. An jüdischen Feiertagen hatten seine Eltern die christlichen Nachbarn eingeladen. An Weihnachten sang Weinberg unter dem Tannenbaum der Nachbarn. Irgendwann änderte sich das. „Wir waren ein Stachel in der Nachbarschaft, weil wir Juden waren“, erzählt Weinberg bei der Lesung.
Besonders eine Geschichte ist ihm in Erinnerung geblieben: Mit etwa elf Jahren brach auf einem zugefrorenen Kanal das Eis, und Weinberg fiel ins Wasser. Statt zu helfen, lachten ihn seine ehemaligen Schulkollegen aus und sangen: „Sitzt ein Jude im Kanal, sitzt ein Jude im Kanal. Wenn er ertrinkt, wir helfen ihm nicht.“ An einem anderen Tag kam er weinend nach Hause, weil ein Freund aufgrund seiner Religion nicht mit ihm spielen wollte. Seine Mutter beruhigte ihn mit den Worten: „Wir sind ja deutsche Bürger, das wird alles vorbeigehen“, so Weinberg.
Später durfte er jedoch als jüdisches Kind keine deutsche Volksschule mehr besuchen. Dann verlor seine Familie Haus und Hof. Seine Eltern sah Weinberg 1942 zum letzten Mal. Ein Jahr später wurde er im Alter von 18 Jahren ins KZ Buna-Monowitz deportiert. Dort wurde er kahl rasiert und tätowiert: „116927“ steht bis heute verblasst auf seinem Unterarm.
Wie sein Bruder ihm das Leben im KZ rettete
Drei Männer teilten sich laut Weinberg eine „verlauste Pritsche“. Sie hatten nur noch die Kleidung am Körper, der Hunger war ein ständiger Begleiter. „Ich war der lebende Hunger“, sagt Weinberg. Er hatte sich immer nach Schlaf gesehnt, denn da spürte man keinen Hunger. Trotzdem wurde er nachts vom Schreien und Weinen der Kranken wach. Oder vom Fallen der Leichen auf den Boden, wenn ein KZ-Häftling wieder verstorben war und sein Bettnachbar mehr Platz haben wollte, erzählt Weinberg.
Die durchschnittliche Lebensdauer im KZ lag bei drei Monaten, sagt der Holocaust-Überlebende. Wie groß die Überlebenschancen waren, hing laut Weinberg aber vor allem vom Arbeitskommando ab. Er kam in Kommando drei, das Kabelkommando oder auch Todeskommando genannt. Jeden Tag musste er schwere Kabel verlegen. Auch der zuständige Ingenieur der I.G. Farben sei so brutal gewesen, dass manchmal drei Menschen am Tag vor Erschöpfung starben, schreibt Weinberg in seine Biografie. Nach ein paar Wochen im KZ hatte er keine Kraft mehr, sich Sorgen zu machen: „Ich dachte nicht an gestern oder morgen. Ich dachte nur ans Überleben.“ Bis er seinen Bruder Dieter im KZ wiedersah. Der sorgte dafür, dass Weinberg in ein besseres Arbeitskommando kam und rettete ihm damit das Leben.
Das passierte nach der Befreiung von Albrecht Weinberg
Nach zwei Jahren in Buna-Monowitz wurde Weinberg von britischen Truppen befreit. 1947 ertrank Dieter in einem Kanal. Ein Unfall, der nur zwei Jahre nach dem Ende der schlimmen Zeit im KZ passierte. Bis heute ist ungeklärt, was genau vorgefallen ist, sagt Co-Autor Büchse. Nach dem Tod von Dieter wanderten Weinberg und seine Schwester Friedel in die USA aus. Als Friedel Jahrzehnte später schwer erkrankte, zogen die beiden 2012 zurück nach Deutschland in ein Altersheim. Friedel starb kurz darauf. Albrecht Weinberg ist heute einer der letzten Überlebenden des KZ Buna-Monowitz.
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