Mannheimer Ökonom zum Bilanzskandal bei Wirecard

"Das ist wie ein Hase-Igel-Rennen"

Von 
Alexander Jungert
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Das Wirecard-Logo auf einer Zahlungskarte. © dpa

Mannheim. Herr Simons, haben Sie so etwas wie bei Wirecard schon einmal erlebt?
Dirk Simons: Ja, es hat schon andere spektakuläre Bilanzskandale gegeben. Denken Sie an den deutschen Sportbodenhersteller Balsam Anfang der 1990er Jahre. Oder an den US-Energiehandelskonzern Enron 2001. Wirecard ist nicht das erste Unternehmen, das die Bilanz aufgepumpt hat.
Etwa zwei Milliarden Euro an Luftbuchungen, erfundene Partnerschaften mit anderen Firmen, ein Top-Manager auf der Flucht . . . Stoff für einen Wirtschaftskrimi.
Simons: Wenn jemand so ein Drehbuch geschrieben hätte, hätte man gedacht: Wow, was für eine blühende Fantasie!
Wie kann so etwas wirklich passieren?
Simons: Das ist leicht (lacht). Im Ernst: Bei Wirecard ist augenscheinlich mit großer krimineller Energie agiert worden. Sobald jemand sämtliche Konventionen sprengt, ist man immer schlecht vorbereitet. Trotzdem kommt natürlich sofort die Frage auf: Wer hätte das merken können?
Was ist mit den Wirtschaftsprüfern?
Simons: Wirtschaftsprüfer arbeiten auf einem bestimmten Sicherheitsniveau - zu 99 oder 99,5 Prozent ist mit einer Bilanz alles in Ordnung. 100-prozentige Sicherheit ist ausgeschlossen, denn das würde bedeuten: Die Prüfer müssten eine Bilanz selbst erstellen. Je nach Sicherheitsniveau rutscht mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit also immer etwas durch. Wegen des Wirecard-Skandals ist deshalb nicht automatisch das gesamte System marode.
Das Problem waren ja die offensichtlich gefälschten Bescheinigungen zu Bankbeständen.
Simons: Bei Bankbeständen ist der Zweifel vergleichsweise niedrig. Wenn eine Bank bestätigt, dass auf einem Konto 100 000 Euro liegen - warum sollte man daran zweifeln?
Die Wirtschaftsprüfer sind doch schon seit Jahren dran und haben die Bilanz nicht das erste Mal gesehen.
Simons: Wirtschaftsprüfer müssen grundsätzlich die Ordnungsmäßigkeit eines Jahresabschlusses testieren, also ob dieser nach den gesetzlichen Vorgaben gefertigt worden ist. Vorliegende Dokumente erfüllen das in der Regel. Wirtschaftsprüfer müssten also erst hellhörig geworden sein, um etwas auf die Spur zu kommen. Und wenn im Hintergrund wirklich jemand mit krimineller Energie zugange ist, gibt es auch Vertuschungsdelikte dazu. Dann ist es verdammt schwer, etwas zu finden.
Es hat schon früh Gerüchte gegeben, dass es bei Wirecard nicht mit rechten Dingen zugehen könnte.
Simons: Klar, Wirecard hat eine Historie. In den vergangenen Jahren hat es immer wieder Ermittlungen gegeben. Wenn irgendjemand sagt, bei Wirecard stimmt etwas nicht - das hätten auch Konkurrenten sein können, die gezielt Falschinformationen streuen wollen. Schließlich galt das Unternehmen lange als Star des Technologie-Index TecDax in Deutschland. Ich will niemanden entschuldigen. Es ist nur ein verdammt schwieriges Umfeld.
Wie schätzen Sie die Rolle der Bafin ein?
Simons: Tatsächlich ist die Bafin als Bankenaufsicht nur für einen bestimmten Teil von Wirecard zuständig - nämlich für die Wirecard Bank. Und die scheint ja ganz solvent zu sein. Wirecard ist zielgenau durch so ziemlich alle Radare geflogen. Keiner ist so richtig zuständig.
Braucht die Bafin mehr Durchgriffsrechte?
Simons: Ein Bilanzskandal wie bei Wirecard ist so ähnlich wie die Explosion eines Atomkraftwerkes. Das ist der Super-GAU und schädigt den Finanzplatz Deutschland massiv, keine Frage. Gleichzeitig muss man sehen: 99,99 Prozent der Bilanzen in Deutschland sind nicht kriminell manipuliert. Ich interessiere mich seit 25 Jahren wissenschaftlich für Bilanzierung. Und immer wieder sind die gleichen Appelle aufgetaucht: Wir müssen alles strenger regeln! Wir brauchen mehr Kontrolleure! Das ist die natürliche Reaktion auf einen Bilanzskandal. Aber die Frage ist doch: Können wir es wirklich besser machen?
Und, können wir?
Simons: Das ist wie ein Hase-Igel-Rennen. Wenn Sie jemand an der Nase herumführen will, dann findet derjenige auch die Lücke. Im Grunde genommen ist das ein Rennen, das die Aufsichtsbehörden nicht gewinnen können.
Es bringt also gar nichts, die Bafin zu reformieren?
Simons: Das wird schon passieren und ist auch richtig so. Die Wahrscheinlichkeit für den nächsten Skandal wird etwas kleiner, weil wieder eine Lücke geschlossen worden ist. Aber das heißt nicht, dass es nie mehr einen Bilanzskandal geben wird. Die Zeiträume zwischen zwei Vorfällen können größer werden, das ja. Das wäre schon ein Zeichen, dass ein System gut funktioniert.
Wirecard war also definitiv nicht der letzte Fall?
Simons: Zumindest nicht für die nächsten 100 Jahre, das verspreche ich Ihnen. Es ist auch eine Frage der Qualität: Kann die Bafin so viele Top-Bilanzierer einstellen, dass diese für alle Unternehmen von der Pike auf die Buchführung erledigen? Wahrscheinlich nicht.
Die Politik ist in Wallung.Nächste Woche plant der Finanzausschuss des Bundestags eine Sondersitzung. Ist das gerechtfertigt?
Simons: Natürlich muss analysiert werden, was passiert ist und es müssen Lehren daraus gezogen werden. Das sollte aber nicht bedeuten, alles in Frage zu stellen und dass bisher sämtliche Kontrollen schlecht gewesen sind. Sondern vielmehr, dass sich Sicherheitsmechanismen an der einen oder anderen Stelle verbessern lassen. Wirecard ist lange für die tolle Performance gelobt worden, nur wenige hatten Zweifel. Jetzt, da der Bilanzskandal aufgeflogen ist, wollen natürlich wieder alle gewusst haben, dass das nur eine Betrugsgeschichte sein konnte.
Das klingt jetzt ein wenig so, als wollten Sie die Aufsichtsbehörden in Schutz nehmen. . .
Simons: Die Übeltäter sind immer noch die, die bei Wirecard mit falschen Karten gespielt haben. Wirtschaftsprüfer und Aufsichtsbehörden dürfen nicht daran gemessen werden, was heute über Wirecard bekannt ist - sondern daran, was sie damals hätten wissen müssen. Es nützt nichts, das Kind mit dem Bade auszugießen. Ich wünsche den Beteiligten des Finanzausschusses, dass sie alles in Ruhe durchexerzieren können und das Ergebnis nicht schon feststeht, bevor überhaupt richtig angefangen worden ist.
Wirecard befindet sich nach wie vor im deutschen Leitindex Dax. Sollte der Konzern so schnell wie möglich rausfliegen?
Simons: Es gibt klare objektive Regeln, wie ein Unternehmen aus dem Dax rein und wieder raus kommt. Dass Wirecard im September bei der nächsten regulären Überprüfung den Dax verlassen muss, dürfte ja gesetzt sein. Aber vorher schon? Stellen Sie sich dazu ein Szenario vor.
Welches?
Simons: Ein Aktionär hat die Hoffnung, dass aus Wirecard noch einmal etwas werden könnte. Die Deutsche Börse aber nimmt das Unternehmen vorzeitig aus dem Dax. Der Aktionär sagt dann: Dass der Aktienkurs auf Talfahrt gegangen ist, liegt nur daran, dass ihr Wirecard ausgeschlossen habt. Dadurch entsteht ein riesiges Haftungsproblem. Es muss also geklärt werden, wie groß eventuelle rechtliche Risiken durch die vorzeitige Entnahme von Wirecard aus dem Dax sind. Das ist wie bei Rolf Breuer, dem ehemaligen Vorstandssprecher der Deutschen Bank. . .
. . . der 2002 öffentlich die Kreditwürdigkeit der Kirch-Gruppe angezweifelt hatte . . .
Simons: Aus meiner Sicht hatte Breuer zwar recht. Aber er hätte es an dieser Stelle eben niemals sagen dürfen. Überlegen Sie, was für ein Riesen-Ding daraus geworden ist.
Was, wenn es keine rechtlichen Fallstricke gäbe?
Simons: Dann sollte man dem Spuk so schnell wie möglich ein Ende bereiten und Wirecard aus dem Dax nehmen. Es geht um den Ruf der Deutschen Börse und den Finanzplatz Deutschland. Lieber ein Ende mit Schrecken, als ein Schrecken ohne Ende.
Stellen Sie sich vor, Sie könnten den geschassten Wirecard-Chef Markus Braun treffen. Was würden Sie ihn fragen?
Simons: Ob er bei der Wahl der Vorstandskollegen die ordentliche Sorgfalt hat walten lassen.

 

  • Dirk Simons, Jahrgang 1969, stammt aus Mönchengladbach (Nordrhein-Westfalen).
  • Seit 2004 ist er Inhaber des Lehrstuhls für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre und Rechnungswesen an der Universität Mannheim und Mitglied eines Sonderforschungsbereichs, der sich mit Transparenz in der Unternehmensberichterstattung befasst.
  • Simons gehört zudem dem Rektorat der Universität Mannheim an.
  • Der Professor lebt im Rhein-Neckar-Kreis. Hobbys: Laufen sowie Borussia Mönchengladbach anfeuern.

Redaktion berichtet aus der regionalen Wirtschaft

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