Es ist ein neuer Testfall für die Solidarität unter den EU-Mitgliedstaaten. Denn Litauen wird dem Druck aus Minsk allein nicht standhalten können. Das wissen der belarussische Präsident Alexander Lukaschenko und sein russischer Patron Wladimir Putin. Schließlich konnten sie miterleben, wie die Türkei das Instrument „Freie Fahrt für Schutzsuchende“ bereits erfolgreich genutzt hat, um die Europäische Union zu erpressen. Dass die Fälle eigentlich nicht vergleichbar sind, weil Ankara Hilfesuchende tatsächlich auf seinem Territorium untergebracht und aufgenommen hat, während Minsk die Menschen erst ausnimmt und dann nach Europa schafft, sollte man betonen.
Aber beide Regierungen instrumentalisieren Menschen für ihre perfide Politik gegen Europa – ein Vorgehen, das durch nichts zu rechtfertigen ist. Die Union wird deshalb zeigen müssen, dass sie sich nicht unter Druck setzen lässt. Das hat im Zusammenspiel mit dem türkischen Präsidenten etliche Jahre gedauert, bis der an einem politischen und ökonomischen Punkt angekommen war, an dem er die Beziehungen zur EU brauchte. Genau darauf hofft man in Brüssel auch im Fall Lukaschenkos, der politisch schon jetzt nur deswegen überleben kann, weil er Rückendeckung aus Moskau bekommt.
Der Schlüssel liegt dort. Das macht die Sache für die Gemeinschaft nicht einfacher. Im Gegenteil. Denn die Spitzen der 27 Mitgliedstaaten haben gerade erst bei ihrem Gipfeltreffen vor wenigen Wochen jeden direkten Kontakt mit dem russischen Präsidenten abgelehnt und damit einen Vorstoß der deutschen Bundeskanzlerin und des französischen Staatspräsidenten ins Leere laufen lassen. Es gibt also de facto kein Gesprächsforum, um im Rahmen einer Annäherung über Moskaus Unterstützung für den belarussischen Diktator reden zu können.
Die Situation ist mehr als verfahren, zumal den EU-Mitgliedstaaten klar ist, dass man die Daumenschrauben gegen Belarus in Form von noch weiter gehenden Strafmaßnahmen nicht sehr viel mehr anziehen kann, ohne tatsächlich die (unschuldige) Bevölkerung zu treffen. In der Situation bleibt der EU nur ein starkes Signal, dass man weder Litauen noch Polen im Regen stehen lässt. Im Fall Warschaus, das gerade keine Gelegenheit auslässt, um die Gemeinschaft zu brüskieren, dürfte dies nicht einfach werden. Denn wer die Solidarität mit Füßen tritt, sie aber benötigt, hat ein Problem. Die kommenden Beratungen der 27 Außenminister versprechen spannend zu werden.
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Mannheimer Morgen Plus-Artikel Menschen-Opfer
Detlef Drewes findet, die EU wird am Beispiel Belarus zeigen müssen, dass sie sich nicht unter Druck setzen lässt